Die Koordinaten im Leben des Kapitän Gao Chun sind maritimer Natur. Etwa: »Fischverkäufer und Fischkäufer hassen sich.« Was er von der Welt weiß, weiß er vom Fluss. Der Jangtse wirkt an seinen breitesten Stelle wie ein Meer. Wo endet das Wasser und beginnt der Himmel? Gao Chun (expressiv-verschlossen: Qin Hao) fährt mit seinem Schiff immer den Fluss hinauf. Eine Reise durch schluchtenreiche Gegenden, vorbei an Industrieschrott, Strominseln und Nebelbänken. Das alte und das neue China vermischen sich im Traum.
Es ist ein Flussfilm der besonderen Art. Regisseur Yang Chao sieht die Reise mit den Augen eines chinesischen Joseph Conrad. Es ist der magische Blick, der eine eigene filmische Realität schafft, einen Bilderfluss, den er dann mit seinem merkwürdigen Schiff auch selbst befährt. Hin zum Ursprung des Flusses und des eigenen Lebens. Denn welche Traumbilder sind uns am gegenwärtigsten? Oft sind es lang zurückliegende, Kindheitswelten etwa. Gao Chuns Vater ist kürzlich gestorben, aber er ist hier doch anwesend: als schwarzer Fisch.
Diese Reise zum Ursprung des Jangtse ist also eine Beschwörung des Todes. Doch ebenso auch eine des Eros. Denn immer wieder tauchen am Flussufer Mädchen auf. Gao Chun ist von diesen Mädchen besessen, wie Faust, der in jedem Weibe Helena sieht (wie Mephisto diagnostiziert), oder wie der Rheinfahrer, der von der Schönheit der Loreley geblendet, im Fluss untergeht.
Die Berlinale hat zur Halbzeit einiges an politisch-engagierten, geradezu missionarischen Filmen gezeigt, mit klarer Botschaft doch zumeist in konventioneller Erzählweise. Aber ein Film, der allein durch seine Bildsprache wirkt, fehlte bislang. Nun ist es mit »Crosscurrent« ausgerechnet ein chinesischer Film, der den Wettbewerb auf sein bisheriges Manko stößt: das Fehlen von filmischer Innovation und originellen Stilmitteln (die anderes sind als bloß ausgereizte technische Möglichkeiten). Das überrascht, denn das große Filmland China ist auch eines der kommerzialisiertesten. Film als Kunstform behandelt, in der Legenden, surreal-absurde Wirklichkeitsverschiebungen, Zeitverlangsamung oder sprunghafte Beschleunigung eine ureigenste Form des Zusammenspiels finden, das gab es bislang kaum. Um so wichtiger dieser konsequent sein Bild von Welt schöpfende Film.
Und um die Hürde noch höher zu legen: Der meiste Text, den wir in »Crosscurrent« hören, stammt aus Gedichten über den Fluss. Es ist ein hoher Grad an Stilisierung, den Regisseur Yang Chao und sein Kameramann Mark Lee Ping-Bing hier wagen. Doch gerade dies schafft den Gleichnis-Charakter: Am Ende der Reise den Fluss hinauf wird die Quelle, aus der er entspringt, wiederum zum Anfang. Und auch im Industrieschrott rechts und links beginnt sich Natur neu zu regen.
Mit »Crosscurrent« stößt dem Wettbewerb der Berlinale also etwas Archetypisches zu: Handlung verwirrt sich im Netz aus Motiven, über deren Realitätsgrad und zeitliche Verortung man im Unklaren bleibt. Faszinierend montierte Bilder irritieren die gewohnte Wahrnehmung. Das Wasser des Flusses fließt dabei ebenso wie die Bilder derer vorbei, die auf ihm leben. Alles fließt, panta rhei, alles ist in Veränderung. Das war einst auch der Ruf jener Industrialisierung, durch deren Ruinen das Schiff nun dem Ursprung des Jangtse zusteuert. Welch ein Gleichnis der ebenso uralten wie immer neuen Quelle!
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1001987.panta-rhei-alles-fliesst.html