nd-aktuell.de / 05.04.2016 / Kultur / Seite 14

Pars pro toto

Die Berlinische Galerie gewährt mit Porträtfotos Einblicke in eine neue Schaffensperiode von Heidi Specker

Anita Wünschmann

Die 1962 geborene Fotografin Heidi Specker hatte in den frühen Neunzigern mit Architekturfotografie auf sich aufmerksam gemacht, indem sie mit einer der ersten Digitalkameras (Quicktake 100) urbane Spuren sicherte. In Berlin entdeckte sie Fassaden der Nachkriegsmoderne als fotografisches Motiv (»Zehlendorf«/ »Eiermann« aus der Serie »Im Garten«, 2003, 2004). Sie erzählt von der eigenwilligen Symbiose, die Natur und Architektur miteinander eingehen. Birken vor Beton. Birke vor rosafarbener Hauswand (»Schulhof«). Die Räume weggezoomt, zur abstrakt anmutenden Oberfläche verdichtet. Zwischen Poesie und lakonischer Sachlichkeit changieren die unerschrocken vergrößerten digitalen Drucke, deren Verpixelung als malerisch anmutende Körnung zum Programm deklariert wird, vor allem aber dem Stand der Technik geschuldet war. In der Zeit der so sichtbaren Differenz zwischen analog und digital entschied sich Heidi Specker für die Überraschungen des neuen Mediums.

Die flüchtigen Schatten einer Baumkrone auf dem Gehweg oder die Spiegelung von Geäst im nassen Asphalt zeichnen zugleich mit den Fotos eine Traditionslinie nach, die zu den Bildexperimenten der Moderne-Klassiker reichen. Alltagswahrnehmung, Unaufgeregtes, Punkt und Linie. Das Licht zumeist neutral, keine Romantik. Nirgends. Oder doch? Manchmal ist ein warmer Streifen eingefangen. Er berührt und markiert die Kontur von Zweigen. Himmelblau reflektiert im Fenstergeviert.

Zu einigen dieser früheren Arbeiten zeigt Heidi Specker, seit 2011 Professorin für Fotografie an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, jetzt 70 Porträts und gibt damit Einblick in eine neue Schaffensphase. Zwei Jahre lang hat die Künstlerin in ihrem Kreuzberger Atelier wie im »Labor« gearbeitet und sich dem Klassiker-Thema der Fotografie genähert. »In Front of« heißt die Ausstellung. Das frontale Ablichten ist ein beliebter Modus, geliebte Menschen zu knipsen. Sie rücken ihre Kleidung zurecht und posieren möglichst vorteilhaft. In einer völlig anderen Dimension zeigt sich die Frontaltechnik beim biometrischen Passbild. Hier soll zwischen Kinn und Stirn und von Ohr zu Ohr nichts verborgen bleiben. Was dem Sicherheitsermessen mehr oder weniger dienlich ist, scheint aber gänzlich ungeeignet, etwas vom Wesen mitzuteilen.

Heidi Specker lud Künstlerfreunde und Bekannte ein und erprobte gemeinsam mit ihnen, wie denn die Beziehung zwischen Fotograf und Modell funktionieren könnte. Wie bewegt sich der Zu-Porträtierende ungezwungen vor der Kamera? Was kann über ihn und mit ihm erzählt werden? Was teilt die Fotografie über die Fotografin mit?

Diese immer wieder neu zu stellende Frage führt zu unaufgeregten, stillen Porträts, die in kleinen Gruppen oder als Einzelbild präsentiert werden. Mal muss ein Detail genügen, ein Körperfragment, dann wieder gibt es ein Ganzkörperbild. Die Banalität irritiert und summt als Frage lange nach. Ein Sittenbild aus Stille und Nachdenklichkeit. Die Spannkraft, so scheint es, hängt am Nagel. Eine Frau sitzt - man sieht weder Kopf noch Bein - und hält ihre Arme verschränkt. Das Porträt offenbart dem Betrachter reifere Hände, die Fingernägel kurz, lackiert, eine gemusterte kurzärmlige Bluse, eine ruhige Pose. Mehr nicht.

Das Bild, so der bekannte Satz, entsteht im Auge des Betrachters. Alle Details und erst recht die Gestik verweisen auf die konkreten Personen und stupsen die Fantasie des Beschauers zusätzlich hinein in die Rezeptionsgeschichte. Hat Mattheuers »Ausgezeichnete« so gesessen? Nein, hat sie nicht! Hat Rembrandt nicht die Hände ...? Und mit anderen Fotos durchdekliniert: Mann sitzt und trinkt aus einer Tasse. Mann steht und schaut nach rechts aus dem Bild. Frau berührt nachdenklich ihr Kinn. Genügt ein Fetzchen Bart, um den Assoziationsraum des Betrachters möglichst weit zu öffnen oder eine Perücke mit Strickmütze? Im minimal ausgestatteten Atelier gibt es nur wenige Dinge zum Festhalten; einen Stuhl, einen Tisch, Kunstpostkarten, einen Spiegel. Das Blitzlicht war, so erklärt die Fotografin, auf die Decke gerichtet, um dieses flache, gleichmäßige Licht zu erhalten, das die Personen fein zeichnet und zeitlos festhält.

Heidi Specker - In Front of. Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124-128, Kreuzberg, Mi.-Mo. 10-18 Uhr