Die Gesichter von Leipzig-Grünau
Seit die Messestadt boomt, ändert sich auch das Image ihrer größten Plattenbausiedlung
Leipzig-Grünau feiert in diesem Jahr sein 40-jähriges Jubiläum. Bekanntlich war es damals das erklärte Ziel, das gravierende Wohnungsproblem in der DDR zu lösen. Die Wohnungen mit Bad und Fernheizung waren für heutige Verhältnisse nicht sehr groß, aber beliebt. Glücklich schätzte sich, wer eine bekam. Die Grundsteinlegung für Leipzig-Grünau erfolgte am 1. Juli 1976. Ende der 1980er Jahre wohnten etwa 85 000 Menschen in diesem Stadtbezirk der Messestadt.
Dann kam der erste Imagewechsel. Nach der Wende zogen viele Menschen weg, vor allem, um andernorts einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu finden. Manche wollten ein Haus bauen, andere in sogenannte bessere Viertel ziehen. Die Einwohnerzahl von Leipzig-Grünau sank auf etwa 42 000. Aber viele blieben auch, weil es viel Grün gab und gibt in Grünau, weil die Infrastruktur stimmt: Supermärkte, Kindergärten, Schulen, Spielplätze. Hier können die Kinder und Enkel draußen spielen. So ist der Anteil der Akademiker in Leipzig-Grünau über 40 Jahre relativ konstant geblieben, allerdings bis heute bestimmt von der Gründergeneration.
All das haben Professor Sigrun Kabisch und ihre Mitarbeiter vom Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, Abteilung Stadtsoziologie, in einer Langzeitstudie begleitet. Die startete im Jahr 1979. Die Initiatoren wollten die Entwicklung der Großsiedlung und insbesondere die Integration der Bewohner in ein neues Wohngebiet soziologisch begleiten. Sigrun Kabisch selbst ist von Anfang an dabei, damals noch als Assistentin von Professor Alice Kahl. Gerade haben Kabisch und ihr Team aus Anlass des bevorstehenden Gründungsjubiläums von Grünau eine neue Erhebung abgeschlossen - die mittlerweile zehnte. Dafür befragten sie 1000 Bewohner aus allen Stadtteilen, 70 Prozent der Befragten füllten die Fragebögen aus.
Die Studie macht den erneuten Imagewechsel deutlich. Es gibt einen hohen Anteil der Zufriedenen, trotz der Diskussionen über Kriminalität oder Jugendbanden. Grünau ist in seiner Entwicklung ein Stadtteil der Widersprüche. Die Entwicklung war vor allem im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende rückläufig: Mit Blick auf den Einwohnerverlust wurden viele Plattenbauten abgerissen, insgesamt 6800 Wohnungen verschwanden. Einige Schulen und Kindergärten schlossen, Spielplätze verwahrlosten. Kabisch: »Doch Leipzig braucht Grünau, das wurde in der Stadtverwaltung erkannt, Wohnungsabriss ist kein Thema mehr.«
Der Wohnungsbestand ist heute fast vollständig saniert, inzwischen wird auch wieder in neue Wohngebäude, Kindergärten und Schulen investiert. Zum Beispiel entstanden mit dem Pfaffenstein Carré und den Kulkwitzer See-Terrassen attraktive Um- und Neubauten. Viele Grünauer zogen hier ein, zahlen Kaltmieten um die acht Euro, gehobenes Niveau für Leipziger Verhältnisse.
In den 1990er Jahren entstand mit dem Allee-Center ein großes Einkaufscenter, beliebt ist die Schwimmhalle, mit der S-Bahn ist man schnell in der Innenstadt. Was jedoch nach wie vor fehlt, sind Cafés und Restaurants und Kleingärten in der Nähe. Laut Studie wollen dennoch nur wenige Einwohner abwandern. Diejenigen, die umziehen möchten, suchen häufig eine größere Wohnung innerhalb Grünaus. Und sie werden fündig, da das Angebot vielfältig ist. Grünau ist kein homogener Stadtteil, es gibt Wohnungsangebote für sozial Schwache, aber auch gut Verdienende. Und neben bezahlbaren Mieten gibt es ein grünes und ruhiges Wohnumfeld.
Die Messestadt Leipzig boomt, Grünau boomt mit. Seit dem Jahr 2010 steigt die Einwohnerzahl kontinuierlich. Und einige der Neu-Leipziger ziehen in die Großsiedlung am westlichen Stadtrand, weil es mittlerweile in besonders begehrten Vierteln wie der Südvorstadt mit ihren Gründerzeithäusern kaum noch freie Wohnungen gibt - aber auch weil ihnen Grünau gefällt. Sigrun Kabisch: »Auch junge Leute ziehen hierher, insbesondere solche mit Kindern.« Das ist wichtig, um der fortschreitenden Alterung der Grünauer Einwohnerschaft zu begegnen. Laut Studie lag der Rentneranteil im Jahr 2000 bei 30 Prozent lag, jetzt liegt er bei 45 Prozent.
Viele Neu-Grünauer befinden sich noch in der Ausbildung oder im Studium. Doch gerade Jüngere verlassen nach wenigen Jahren die Großsiedlung auch wieder. »Eine große Herausforderung besteht darin, jüngere, gut ausgebildete Menschen in Grünau zu halten«, sagt die Wissenschaftlerin Kabisch. »Denn sonst wird der Generationenwechsel die Sozialstruktur verändern.«
Die Professorin und ihr Team arbeiten für die Studie eng mit der Stadtverwaltung zusammen. Die Ergebnisse münden in konkrete Handlungsempfehlungen. So gibt es im Ortsteil Grünau-Mitte einen relativ hohen Anteil von Mietern, die auf Unterstützung bei der Mietzahlung angewiesen sind. Und es gibt Klagen über das soziale Umfeld, auch über den hohen Anteil ausländischer Jugendlicher. Kabisch: »Hier ist eine Ballung von Problemlagen zu beobachten. Deren weiterer Verschärfung muss entgegengewirkt werden.«
Die Wissenschaftlerin plädiert für eine Versachlichung der Diskussion. Die vorliegenden Untersuchungsergebnisse können dazu beitragen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.