nd-aktuell.de / 27.11.2006 / Politik

Überlaufbecken wird ausgetrocknet

Bildung, Staat und Kirche: Sächsisches Schneeberg gräbt öffentlicher Schule das Wasser ab

Hendrik Lasch
Sinkende Schülerzahlen führen auch in Sachsen zu Schulschließungen. Die Gründung freier Schulen verschärft das Problem. Das gilt auch für Schneeberg, wo die öffentliche Bildung ins Abseits zu geraten droht.
Womöglich dreht sich Geschichte in Schneeberg im Kreis. 1529 wurde in der Bergstadt im Erzgebirge erstmals eine Schule erwähnt. Unterhalten wurde sie von der Kirche. Knapp 500 Jahre später könnte erneut die Kirche die Bildung vieler Schneeberger Kinder übernehmen. Damit rechnet jedenfalls ein Aktionsbündnis. Nicht wenig spricht dafür, dass die Erwartungen berechtigt sind. Bis vor kurzem gab es in der sächsischen Stadt zwei Mittelschulen: die Diesterweg-Schule mitten im Zentrum und die Pestalozzi-Schule im Ortsteil Neustädtel. Doch wie überall in Sachsen sanken auch in Schneeberg die Schülerzahlen. Für 2006 wurden 50 Anmeldungen erwartet, tatsächlich kommen sogar nur 44 Fünftklässler an die Mittelschule. Künftig werden die Zahlen mäßig ansteigen: In fünf Jahren wird mit 83 Kindern gerechnet. Weil das laut Schulgesetz nur für drei Klassen reicht, jede Mittelschule aber mindestens zwei Klassen je Jahrgang einrichten muss, stand eine Schließung an. Der Stadtrat suchte nach Auswegen. Zunächst wurde in Absprache mit Kultusminister Steffen Flath eine Fusion erwogen. Doch der Begriff weckt falsche Hoffnungen, räumt dessen Sprecher Dirk Reelfs ein: »Fusioniert wird an einem Standort.« Ein Konzept für eine Gesamtschule fiel im Stadtrat durch. Letzter Ausweg war die Auflösung beider Schulen und die Gründung einer neuen - mit den zwei Häusern »Disterweg« und »Pestalozzi«. Die Hoffnung der Eltern, ihre Kinder nahe am Wohnort unterrichten zu lassen, wurde jedoch enttäuscht. Statt je eine 5. Klasse an beiden Standorten einzurichten, müssen alle Kinder per Bus in den Ortsteil Neustädtel fahren. Pädagogische und organisatorische Gründe ließen es nicht zu, die Klassen an verschiedenen Orten zu beschulen, sagt Lutz Steinert, Sprecher des zuständigen Regionalschulamtes Zwickau. Dieser Ansicht widerspricht Cornelia Falken, Linksabgeordnete und GEW-Funktionärin: Das Gesetz biete Spielräume, die anderswo in Sachsen auch genutzt würden. Die Behörde aber erachtet die Schule im Stadtzentrum als eine Art Überlaufbecken. Dort werde, sagt Steinert, nur unterrichtet, wenn »die Kapazitäten im Haus Pestalozzi nicht ausreichen«. Damit gräbt sich die öffentliche Schule in Schneeberg das Wasser ab, glaubt Monika Putzker, Sprecherin des Aktionsbündnisses. Seit Schuljahresbeginn gibt es im Stadtzentrum eine neue Mittelschule. Dabei handelt es sich um eine freie Schule, die vom evangelische Schulverein getragen wird. Die »bekenntnisorientierte« Konzeption der Privatschule, von der ihr Träger spricht, wird gut angenommen; derzeit gibt es trotz fälligen Schulgelds 20 Fünftklässler. Die zentrale Lage, glaubt Monika Putzker, ist ein gewichtiges Argument für den Zulauf. Mittelfristig ist nicht ausgeschlossen, dass die evangelische Schule gänzlich an die Stelle der staatlichen Einrichtung tritt. Heute will der Schneeberger Stadtrat beschließen, künftig Geld nur in das Haus Pestalozzi zu stecken. Derweil werden Möbel aus dem Haus Diesterweg an die Privatschule verkauft. Bald wird sie, glauben Beobachter, diese ganz übernehmen - spätestens, wenn ab 2008 Fachkabinette benötigt werden. Kritiker halten diese Entwicklung für fatal. Zwar betonen alle Seiten, keine prinzipiellen Bedenken gegen freie Schulen zu hegen. Sie dürften aber eine bekenntnis- und entgeltfreie öffentliche Bildung »nicht ablösen«, sagt Falken. Die Gefahr besteht. Das Kultusministerium räumte in einem Bescheid an die Stadt ein, dass sich an den öffentlichen Schulen »mit der Einrichtung der evangelischen Mittelschule der Bedarf auf zwei Züge reduzieren« könnte. Glücklich scheint man über diese Entwicklung selbst im Kultusministerium nicht. Dort hatte man gehofft, mit den im Land heftig umstrittenen Schließungen das Schulnetz zu stabilisieren. Die Gründung freier Schulen wirkt dem entgegen: Sie seien »in drei von vier Fällen« dort gegründet worden, wo zuvor eine öffentliche Schule geschlossen wurde, sagt Ministeriumssprecher Reelfs. Widersprechen können die Behörden den Gründungen freilich aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht. Und eine Regelung, wonach in Orten einer bestimmten Größe eine öffentliche Schule existieren muss, gibt es in Sachsen nicht.