Wendepunkte haben in der Geschichtsschreibung eine besondere Anziehungskraft«, schreibt Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, im Vorwort. »Das Jahr 1945 wird für immer mit dem Ende der dunkelsten Epoche deutscher Geschichte verbunden seien. 1914 sehen wir nicht nur als Jahr des Weltenbrands, sondern auch als Aufbruch in die Moderne.« Das Jahr 1177 v.u.Z. war eine ähnliche Zäsur, auch wenn uns dieses Datum heute nicht mehr geläufig ist. Die damals stattgefundene Schlacht zwischen den Streitkräften des ägyptischen Pharaos Ramses III. und den Seevölkern erschütterte nachhaltig die ersten Zivilisationen im östlichen Mittelmeerraum, markierten einen tiefen Einschnitt im Leben der Mykener, Hethiter, Mesopotamier und Ägypter. Und Trojaner, von denen wir dank Homer gemeinhin noch wissen.
Für Eric H. Cline, Direktor des Archäologischen Instituts der George Washington University, ist das Jahr 1177 v.u.Z. der Anker, um den herum er seine grandiose Beschreibung eines epochalen Umbruchs in der Menschheitsgeschichte verfasste. Zu dem freilich, wie bei den Daten 1945 und 1914, eine Kette von Ereignissen führte. Überraschend schon sein für Historiker nicht gerade typischer Einstieg: »Die griechische Wirtschaft ist am Ende. In Libyen, Syrien und Ägypten ist es zu revolutionsartigen Aufständen gekommen, fremde Mächte und ausländische Soldaten gießen Öl ins Feuer. Die Türkei befürchtet, in die Konflikte mit hineingezogen zu werden. Jordanien ist überfüllt mit Flüchtlingen ... Sie glauben, dies seien ein paar Schlagzeilen aus den aktuellen Nachrichten? Das stimmt zwar. Aber genauso war die Situation bereits vor mehr als 3000 Jahren, im Jahr 1177 v.Chr., als die Zivilisationen der Bronzezeit rund um das Mittelmeer nacheinander zusammenbrachen und den Lauf der Geschichte für immer veränderten.«
Man fühlt man sich bei der Lektüre von Clines Bericht den vor über 4000 Jahren lebenden und leidenden Menschen unglaublich nahe. Auch sie litten unter Kriegen, Desinformation, Wirtschaftsembargo, Korruption, internationale Intrigen, Dürre und Hungersnot infolge von Klimawandel. Innerhalb kürzester Zeit zerbrachen Jahrhunderte alte, scheinbar stabile Reiche. Es folgte das »Erste Dunkle Zeitalter«, ehe es in Griechenland zu einer Renaissance menschlicher Kultur kam. Da waren die ominösen Seevölker längst verschwunden. Wohin? Man lese Cline.
Eric H. Cline: 1177 v.Chr. Der erste Untergang der Zivilisation[1]. Theiss. 336 S., geb., 29,95 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1011677.so-fern-und-doch-nah.html