Das Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft im Berliner Olympiastadion am Nachmittag des 22. Juni 1941 beherrschte die Schlagzeilen deutscher Zeitungen am Folgetag. Nicht der Überfall auf die Sowjetunion. »Meister wurde Schalke 04«, weiß Kurt Pätzold. Der Berliner Faschismusforscher hat eine neues Buch vorgelegt, verfasst in der von ihm gewohnten sachlichen Akribie, analytischen Schärfe und mit politischem Instinkt.
Pätzold erinnert nicht nur an die Nichtangriffs- und Freundschaftsverträge von 1939 zwischen Deutschland und der Sowjetunion, die vor 75 Jahren gebrochen wurden. »Auch waren beide Staaten durch Handelsabkommen verbunden.« Irrwitz der Geschichte: Lieferungen aus der UdSSR stärkten die deutsche Rüstungswirtschaft. Das deutsche Volk - nicht die zivilen und militärischen Eliten - wurde vom Angriff auf die UdSSR überrascht. Hitler hatte stets versichert, keinen Zweifrontenkrieg wie 1914 zu riskieren. »Vor diesem Hintergrund bedurfte es erheblichen Aufwandes, den ›Volksgenossen‹ die in ihren Augen abrupte Wendung zu erklären. Und dies umso mehr, als sie bis dahin der Ankündigung vom Juni 1940 geglaubt hatten, dass Großbritannien Deutschlands ›letzter Kriegsgegner‹ sei und der Krieg bald ein Ende nehmen werde.« Laut SD-Berichten war die meisten Deutschen jedoch von einem raschen Erfolg der Wehrmacht auch im Osten überzeugt. Zunächst schien es auch so.
Pätzold skizziert Hitlers größenwahnsinnige und verbrecherische Ziele: Der Diktator in Berlin wollte nicht nur den ersten sozialistischen Staat von der Landkarte tilgen, sondern in einem bis zum Ural reichenden, in »Protektorate« aufgeteilten Kolonialreich »Bolschewisten und Juden« ausrotten, die Bevölkerung auf den Bedarf an Arbeitssklaven reduzieren und das unterworfene, geknechtete Land zur Erlangung weltweiter Vorherrschaft ausplündern.
Überrascht vom Überfall war man tragischer- und unnötigerweise auch auf sowjetischer Seite. Der Autor verweist auf eine am 14. Juni 1941 veröffentlichte TASS-Meldung, »die nach ihrem Inhalt nur aus dem obersten Führungszirkel der UdSSR stammen konnte« und gewiss das Plazet Stalins hatte. Sie suggerierte, die deutsch-sowjetischen Beziehungen seien bestens und Kriegsgerüchte Lügen. »Was immer mit dieser Veröffentlichung beabsichtigt worden war, eins wurde mit ihr jedenfalls erreicht: eine Beruhigung der sowjetischen Bevölkerung.« Man kennt die Fotos, auf denen Menschen zu sehen sind mit ungläubigen, erstarrten Gesichtern: Sie konnten nicht fassen, was sie zur Mittagsstunde des 22. Juni ’41 aus Lautsprechern vernahmen.
Eine fatale Folge der obskuren Falschmeldung vom 14. Juni war, dass die deutschen Armeen »häufig auf geringen Widerstand der Grenztruppen stießen. Diese hatte erst zwei Stunden zuvor ein Befehl aus Moskau in Alarmbereitschaft gesetzt, falls der sie noch rechtzeitig erreichte.« Die erste deutsche Wochenschau nach dem Einmarsch zeigte Rotarmisten, die in Unterwäsche, aus dem Schlaf gerissen, über eine Brücke ins »Reich« getrieben wurden. »Zur These von den angriffshungrigen Bolschewisten passten die Bilder nicht«, betont Pätzold wider die noch heute kolportierte Präventivkriegslüge.
Verwundert über die Ahnungslosigkeit sowjetischerseits dürften damals auch jene Antifaschisten und Spione gewesen sein, die in den Wochen zuvor Moskau über einen Angriff informiert hatten. Wie viel Leid hätte verhindert werden können, wären ihre Warnungen nicht ignoriert worden? Im Kapitel »Die Katastrophe« befasst sich Pätzold mit dem »doppelten Irrtum« der Sowjetführung (Fehlurteil über Deutschland, Überschätzung der eigenen Kräfte) sowie der Unterdrückung »schmerzender Wahrheit« nach dem opferreichen Sieg. Er erinnert an das Massaker an 33 000 Juden in Babi Jar bei Kiew (der Überfall ’41 markierte den Beginn der Shoah), an die Hinrichtung der Komsomolzin Soja Kosmodemjanskaja sowie viele weitere grauenhafte Verbrechen.
Die Darstellung endet mit der gescheiterten Offensive der Wehrmacht vor Moskau im Dezember ’41: »Die Eroberer - wenn auch bei weitem noch nicht kampfunfähig - waren auf die Straße der Verlierer geraten, von der es kein Entkommen gab.« Briefe eines Gefreiten von der Ostfront und ein Dokumentenanhang - von Hitlers Weisung zur Kriegsvorbereitung am 21. Juli 1940 bis zu seiner Weisung Nr. 21 (»Fall Barbarossa«) vom 18. Dezember 1941, aber auch Rundfunkreden von Churchill, Thomas Mann etc. - beschließen das aufklärende und insbesondere Jugendlichen zu empfehlende Buch.
Kurt Pätzold: Der Überfall. Der 22. Juni 1941 - Ursachen, Pläne und Folgen. Edition Ost. 254 S., br., 14,99 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1016427.wie-viel-leid-waere-verhindert-worden.html