nd-aktuell.de / 18.08.2016 / Politik / Seite 14

Ohrstöpsel für die Loreley

Das Mittelrheintal ist Europas meistbefahrene Güterzugstrecke - wie lebt man heute dort?

Jens Albes, St. Goarshausen

Es rattert und rattert und rattert. Mihaela Les blickt aus dem Fenster. Wieder rauscht direkt vor ihrer Nase ein Zug vorbei. Die Rumänin versteht kein Wort mehr. Sie wohnt in St. Goarshausen am Rhein in Rheinland-Pfalz. Hier verläuft nach Angaben der Deutschen Bahn Europas meistbefahrene Güterzugstrecke. Es ist die Route Genua-Rotterdam. Was heißt das für die Gegend nahe dem weltberühmten Loreley-Felsen im Herzen des Welterbes Oberes Mittelrheintal?

Les' Nachbar in dem Mehrfamilienhaus, der rumänische Trockenbauer Hrib Adrian Jonut, sagt: »Wir haben ein Baby. Das wacht in der Nacht öfters auf, wenn ein Zug kommt. Dann klirren die Fensterscheiben und Türen schlagen von alleine zu.« Personenzüge, die ebenfalls durch St. Goarshausen fahren, seien nicht so schlimm. »Aber die Güterzüge machen richtig tak, tak, tak.« Die ganze Nacht. Manchmal grillt Jonut auf dem Balkon mit Kollegen. »Aber immer wenn ein Zug kommt, verstehen wir nicht mehr, was wir sagen.«

Jeden Tag verkehren nach Bahn-Angaben insgesamt rund 400 Züge an beiden Flussufern zwischen Koblenz und dem rheinland-pfälzischen Bingen beziehungsweise dem hessischen Rüdesheim, darunter etwa 250 Güterzüge. Die »Bürgerinitiative im Mittelrheintal gegen Umweltschäden durch die Bahn« spricht von täglich 600 Zügen.

Nach Beginn des Regelbetriebs im neuen Gotthard-Tunnel in der Schweiz im Dezember werden laut dem Bürgermeister der Verbandsgemeinde Loreley, Werner Groß, langfristig »noch 30 Prozent Mehrbelastung« erwartet. Züge alle paar Minuten, auch nachts, »das kann krank machen«, sagt Groß in seinem Amtszimmer in St. Goarshausen.

Ein Katzensprung entfernt steht ein Hotel aus Goethes Zeiten, Baujahr 1797, einst als Poststation erbaut. Später, im 19. Jahrhundert, haben Arbeiter gleich dahinter die Schienen der rechtsrheinischen Bahnstrecke verlegt. Heute buchen manche Touristen drei, vier, fünf Nächte - und reisen schon am ersten Morgen ab. Zu viel Krach.

»Landschaftlich ist es so schön hier mitten im Welterbe«, sagt Hotelchefin Ruth, die ihren Nachnamen nicht nennen will. »Wir haben den Rhein und Weinberge und Burgen.« Rehe äsen in der Nähe, Milane kreisen in der Luft. »Wir strampeln uns ab, um den Gästen was zu bieten, aber die Bahn wertet unsere Leistung ab. Das tut weh.« Ruth deutet auf einen altmodisch blau-grün gemusterten Teppichboden: »Den reißen wir nicht raus, weil er gut den Schall schluckt.«

Sie blickt aus dem Fenster. Manche Wohnungen an den Schienen stehen leer. Das romantische Obere Mittelrheintal mit der höchsten Burgendichte der Welt leidet unter Bevölkerungsschwund - auch, weil viele Jüngere hier keine Jobs finden. An einer Haustür grummelt ein weißhaariger Rentner: »Bahnlärm? Dazu sage ich nichts mehr, bevor ich sterbe. Da ändert sich sowieso nichts mehr.«

Andere Häuser an der mehr als 150 Jahre alten Bahnstrecke haben neue Bewohner, wie Ruth erklärt: »Jetzt wohnen hier viele Zuwanderer, weil die Immobilienpreise so gesunken sind.« Der Bahnverkehr habe zugenommen, die neueren langlebigen Betonschwellen erzeugten mehr Lärm als die früheren Holzschwellen. Wertverlust: Villen mit Garten nahe den Gleisen gebe es nun schon für weniger als 100 000 Euro.

Die Anwohner müssen sich irgendwie helfen. »Ich kenne hier eine Frau, die hat in ihre Vitrine eine Matte unter die Gläser gelegt, damit die nicht so tanzen«, sagt die Hotelchefin. Zu dicht nebeneinander dürften die Gläser auch nicht stehen, damit sie sich nicht gegenseitig beschädigten.

Ruths Hotel wird in einer Bewertung im Internet für seine Nähe zum berühmten Fernwanderweg Rheinsteig gelobt - verbunden mit der Warnung, »dass man ohne Ohrenstöpsel kaum Ruhe findet«. Immerhin, die Deutsche Bahn hat nach Ruths Worten bei den dreifach verglasten Hotelfenstern 75 Prozent der Kosten übernommen.

Ein Bahnsprecher sagt, sein Unternehmen habe bisher rund 70 Millionen Euro in den Lärmschutz im Oberen Mittelrheintal investiert. In den kommenden Jahren seien weitere knapp 80 Millionen Euro vorgesehen. Politisches Ziel sei es, dass bis 2020 nur noch lärmarme Güterwaggons auf deutschen Gleisen unterwegs seien - umgerüstet oder ersetzt.

In Ruths Hotel gibt es aber auch eine Gästegruppe, die sich über die Nähe zu den Schienen freut: Trainspotter, also Hobbybeobachter von Eisenbahnen. Ruth sagt: »Die legen sich hier auf die Lauer, die kommen hier voll auf ihre Kosten.« dpa/nd