Die zusammengeschrumpfte Volkspartei
Nach der Abgeordnetenhauswahl debattieren die Sozialdemokraten selbstkritisch die Ursachen für die Schlappe
Die Rückmeldungen auf den Blogeintrag »Kein Weiter-So in der Berliner Politik« waren durchgängig positiv - bis auf eine: »Ein Genosse sagte mir, das sei die falsche Art, das öffentlich zu diskutieren«, sagt der SPD-Abgeordnete Sven Kohlmeier. Der Abgeordnete aus Marzahn-Hellersdorf - Eigenbeschreibung »Liebling Kaulsdorf« - veröffentlichte Anfang dieser Woche den selbstkritischen Text auf seinem Blog. Über eine Woche lang war zuvor nach der Wahl mit ihrem historisch schlechten Ergebnis für die SPD von 21,6 Prozent nichts geschehen. Nur im Landesvorstand der Sozialdemokraten soll es intern etwas gerappelt haben, aber mehr als die Einsetzung einer Wahlauswertungs-Arbeitsgruppe kam auch dabei nicht zustande.
Dass der erste Aufschlag für die offensichtlich dringend notwendige selbstkritische Diskussion vom östlichen Stadtrand kommt, ist indes kein Zufall. Mit 17 Prozent landete die SPD bei den Zweitstimmen in Marzahn-Hellersdorf auf Platz vier - hinter AfD, LINKEN und CDU. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, könnte das bedeuten, dass die SPD bei der Bundestagswahl keinen Bundestagsabgeordneten mehr hat, was wiederum Konsequenzen für Büros und Mitarbeiter vor Ort hätte. »Für uns im Osten ist es eine Strukturfrage, wie wir abschneiden, ohne Mandate fehlen uns die finanziellen Ressourcen«, sagt Kohlmeier. Aber nicht nur aus diesem Grund ist die Alarmstimmung in den Gebieten mit den erstarkten Rechtspopulisten besonders groß. Wobei es Mahnern wie Kohlmeier gar nicht um eine Personaldiskussion geht. »Ich will, dass Michael Müller Landesvorsitzender bleibt, der soll das aushalten, aber er muss auch zu uns an den Stammtisch kommen«, sagt Kohlmeier. Da erlebe er ungefiltert, was die Menschen denken: Vor allem herrsche dort der Eindruck vor, dass für die Menschen vor Ort immer weniger getan werde.
Ein Glaubwürdigkeitsproblem, das hat die SPD als langjährige Regierungspartei nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Kurz nach Kohlmeier wendet sich in dieser Woche auch der mächtige SPD-Fraktionsvorsitzende Raed Saleh mit einem »Essay« im »Tagesspiegel« zu Wort. Saleh, dem nachgesagt wird, dass er sich in den Parteigremien kaum zu Wort meldet, wirft in seinem Text die These auf, dass die SPD als Volkspartei mittelfristig nicht mehr gebraucht werde, wenn sie sich nicht radikal erneuere. Auch Saleh hat im Wahlkampf die Erfahrung gemacht, dass die Partei am Stammtisch nicht mehr als natürliche Vertreterin der Bürgerinteressen wahrgenommen wird: »In der ersten Minute nahmen die Leute einen nicht als den Sozi aus der Nachbarschaft wahr, sondern als Repräsentant des Staates«, schreibt der Fraktionsvorsitzende. Die müsse aber immer auf der Seite der Bürger stehen - und einflussreichen Lobbys den Kampf ansagen. Und: »Wenn wir auch nur annähernd in den Ruch kommen, mit finanzstarken Eliten zu klüngeln, trifft das eine linke Volkspartei bis ins Mark.« Der Regierende Bürgermeister und Landeschef Michael Müller (SPD) wird in dem Text zwar nicht ein einziges Mal genannt, aber diese Passage zielt offensichtlich auf Müller und dessen Regierungsmannschaft. Salehs Ausweg: Politik für die ganze Stadt zu machen und mit Rot-Rot-Grün eine an Sachfragen orientierte Politik umzusetzen. Die Reaktion des Landeschefs Michael Müller zu der begonnenen Diskussion ist zurückhaltend. »Mit dem Ergebnis gibt es allen Grund, selbstkritisch zu diskutieren«, sagte Müller nach der Sitzung des Landesvorstandes am Donnerstagabend. Aber sein Credo ist ein anderes: Erst solle die Diskussion intern geführt und die Ergebnisse der AG Wahlanalyse abgewartet werden, dann könne die Partei mit den Ergebnissen nach außen treten.
Dass der Fraktionsvorsitzende Raed Saleh mit der Veröffentlichung seines Artikels den umgekehrten Weg ging, wird vor allem aus dem Kreis der Funktionäre kritisiert. »Nicht mein Essay ist das Problem, sondern die 21,6 Prozent«, sagt Saleh dem »neuen deutschland«. Er wünsche sich die inhaltliche Debatte, man dürfe nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen. Gerade aus der Parteibasis, aber auch von den Bürgern von der Straße gebe es viel Zustimmung zu seinen Thesen.
Noch vor Beginn der Koalitionsverhandlungen mit LINKEN und Grünen, die der Landesvorstand der SPD jüngst einstimmig empfahl, soll die AG Wahlanalyse ihre Ergebnisse vorlegen. »Alle Beteiligten, auch die Senatoren, müssen sich überlegen, was ihre Anteile waren, und wie man es besser macht«, sagt die Landesvorsitzende der Jusos, Annika Klose. Selbstkritisch, aber nicht selbstzerfleischend, das sei jetzt angesagt. Und danach? Viele hoffen in der SPD, dass mit einem rot-rot-grünen Bündnis eine gute Zusammenarbeit gelingt - und es wieder aufwärts geht.
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