Ganz so spannend und hintergründig wie sein erster Potsdam-Krimi ist Tim Piepers »Kalte Havel« nicht, beschert dafür aber ein Treffen mit alten Bekannten aus »Dunkle Havel«.
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* Tim Pieper: Kalte Havel[1]. Kriminalroman. Emons Verlag. 256 S., br., 10,90 €.
Oberkommissar Toni Sanftleben, freigestellt vom Dienst, lebt - wenigstens zeitweise mit Frau und Sohn vereint - noch immer auf dem Hausboot in der Neustädter Havelbucht. Doch sein Glück bleibt nicht vollkommen. Seiner geliebten Sofie haben siebzehn dunkle Jahre Abwesenheit nicht genügt, sie braucht eine Auszeit; der hochbegabte Sohn hat zu Vaters Freude endlich eine Partnerin gefunden. Höchste Zeit also für Sanftleben, ins mörderische Berufsleben bei der Mordkommission zurückzukehren, wo ihn der vietnamesische PC-Nerd Phong und die unermüdliche Gesa schon sehnsüchtig erwarten. Ohne die beiden würde vermutlich bei den komplizierten Ermittlungen nicht viel laufen - Kriminalrat Schmitz ist die unbelehrbare Blitzbirne von Chef geblieben.
Und die aufreizend schöne Staatsanwältin Caren, der ein Stalker das Leben schwer macht, ist diesmal sehr direkt in den aufzuklärenden Fall involviert: Ihr 16-jähriger Sohn ist verschwunden, sein Kumpel Hendrik liegt vor der Sacrower Kirche erschossen am kalten Havel-strand.
Innerlich zerrissen von der tapfer niedergekämpften Alkoholsucht und dem Kummer mit der eigenen Frau, jagt Sanftleben in einer wahren Tour de force von einem Verdächtigen zum nächsten. Die meisten wohnen ziemlich nobel, befinden sich im gehobenen Lebensalter und einer ebensolchen Position - und haben Ärger mit ihren jeweiligen Partnerinnen. Nur der Stalker, dessen Frau sich heimlich prostituiert, ist ein ganz gewöhnlicher Maurer, leidet allerdings unter schizophrenen Schüben. Ansonsten trifft Sanftleben, der immer mal wieder kurz vor dem Durchbruch steht, auf eine bemerkenswerte Vielfalt krimineller oder zumindest anrüchiger Aktivitäten. Neben Urbexern (urban explorers), die dem morbiden Charme verlorener Orte verfallen sind - in Brandenburg gibt es von denen genügend -, toben sich in den Ruinen von Beelitz-Heilstätten partygeile Autonome, Kokser und Brandstifter aus. Rund um Potsdam handeln organisierte Kriminelle mit Luxuskarossen, betreiben korrupte Beamte, Erpresser und Entführer ihr schäbiges Handwerk. Einer davon ist der (wenig überzeugende) Täter. Die technischen Einzelheiten der Entführung oder einer Millionenabhebung klammert der Autor großzügig aus, eine Million Euro werden schnell mal in die Tüte gesteckt - 2000 auffällige (nicht registrierte?) 500er-Banknoten immerhin oder 20 000 gängige Fünfziger!
Tim Pieper erweist sich als profunder Kenner und Liebhaber touristischer und nostalgischer Glanzlichter bis hin zum alten Olympiadorf. Seine Sprache ist noch immer ein wenig gestelzt, Zeitformen verschwimmen gelegentlich, zu viele Sätze beginnen mit »Während ...« und »Nachdem ...«. Dafür vergisst der penible Sanftleben nie, vor dem Anfahren seines Autos den ersten Gang einzulegen oder das iPhone nach Gebrauch abzuschalten.
Zum Gitarre spielen fehlt ihm diesmal die Muße. Dafür widersteht er am Schluss dem Rettungsanker Alkohol. Schade um den Grappa?
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1033108.mord-und-morbides-in-brandenburg.html