nd-aktuell.de / 14.06.2017 / Politik / Seite 18

Die Stadt der Zukunft wächst aus Erfahrung

Der Argentinier Pedro Salinas über den neuen Munizipalismus, linke Verwaltungserfahrung und das große Ganze

Seit 2016 sitzen Sie als einer von drei Aktivisten von Ciudad Futura im Stadtrat von Rosario. Auf welches Projekt sind Sie besonders stolz?

Da ist zunächst einmal die Molkerei »La Resistencia«, um die wir zehn Jahre lang gekämpft haben. Sie befindet sich auf einem 300 Hektar großen Gebiet, das die Stadt als Baugrund ausgeschrieben hat. Dort lebten 250 Familien unter sehr prekären Bedingungen. Als Privatinvestoren das Land zu Spottpreisen für eine Luxussiedlung aufkaufen wollten, haben wir es besetzt, die Molkerei technisch aufgerüstet, sodass sie nun 1000 Liter Milch täglich produziert und verarbeitet.

Was ist aus den Familien geworden, die vorher dort lebten?

Wir haben auf dem Molkereigelände auch Wohnungsprototypen aus Schiffscontainern entwickelt, eine große Verbesserung zu den Hütten, die dort vorher standen. Dort wohnen heute auch Mitstreiter aus unserer Bewegung. So ist mit der Zeit eine kleine prototypische Siedlung entstanden. Die geplante Räumung wurde inzwischen gerichtlich gestoppt.

Wie wird aus solchen Einzelprojekten kommunale Politik?

Es geht bei unseren Projekten nie ausschließlich um einen Bereich, nie allein um Wirtschaft oder Wohnen, sondern immer um den größeren Zusammenhang. Nahe der Molkerei befindet sich auch eine weiterführende Schule, eine von drei Bildungsinstitutionen, die wir ins Leben riefen. Dort wird nicht nach Fächern, sondern nach Bereichen unterrichtet, die unmittelbar an die Lebenswirklichkeit der Schüler anknüpfen. Die Schulen sind nicht offiziell anerkannt, die Lehrer arbeiten unentgeltlich. Aber da wir eine der niedrigsten Schulabbrecherquoten der Provinz haben, akzeptiert das zuständige Ministerium unsere Abschlüsse. Gerade kämpfen wir um die offizielle Anerkennung.

Normalerweise funktioniert es umgekehrt: Zuerst wird der rechtliche und der finanzielle Rahmen abgesteckt, dann kommt das Projekt.

Was das Geld angeht: Für uns steht die politische Autonomie an erster Stelle. Deswegen finanzieren wir unsere Projekte selbst oder gestalten sie - wie die Molkerei - so, dass sie über staatliche Programme finanziert werden müssen. Bei unserer Arbeit gehen wir immer von der konkreten Erfahrung vor Ort aus. Wir nennen das das »präfigurative Modell«.

Was können wir uns darunter vorstellen?

Von jeher war die Linke sehr gut im Abstrahieren, im Theoretischen, konnte aber nicht gut verwalten. Als Munizipalisten glauben wir: Wir müssen lernen, vor Ort zu gestalten. Wenn wir dann in die Institutionen gelangen, können wir diese Erfahrungen in institutionelle Politik umwandeln.

Lässt sich das Modell exportieren?

Ich halte das sogar für dringend notwendig. In Argentinien hat man gesehen, wie schnell die Errungenschaften der Ära Kirchner durch Macri wieder beseitigt wurden. Das war vor allem für die europäische Linke, die sich in das lateinamerikanische Modell »verliebt« hat, eine herbe Enttäuschung. Die Lehre daraus: Wir dürfen die Früchte unserer Arbeit nicht von ein, zwei guten Wahlperformances abhängig machen, sondern müssen sie dauerhaft sichern. Das geht aber nur, indem wir gemeinsam mit den Bürgern Nachbarschaftsprojekte und nicht staatliche Institutionen schaffen - Schulen, Kindergärten, Wohnprojekte. Mit politischem Willen und etwas Kreativität sind viele Dinge möglich!