Die Wiederverzauberung der Welt
Das Poesiefest Berlin begann klangvoll und vielsprachig. Im Fokus steht diesmal Europa
Es gibt Leute, die auf die Frage, ob ein Gedicht die Welt verändern könne, zurückhaltender antworten als der schottische Poet John Burnside. Der meint: selbstverständlich. Dichtung sei mittelbar sogar dazu fähig, einen lebenswerteren Planeten erst wieder zu erschaffen - und dies wohlgemerkt nicht nur in der Fiktion, sondern auch in der Realität. Ob er nun recht hat oder nicht: Ein Künstler, der so redet, hat sich nicht abgefunden mit den Zuständen, in die er sich hineingeworfen sieht. Daran, dass Weltveränderung nottut, besteht für Burnside kein Zweifel.
Wer den Mann nun für einen Agitprop-Dichter hält, hat sich gründlich getäuscht. In seiner »Berliner Rede zur Poesie«, die er am Sonntag in der Akademie der Künste (AdK) am Potsdamer Platz hielt, legte Burnside großen Wert auf die Feststellung, »dass die Bekämpfung eines unzumutbaren politischen Systems keineswegs zu den Hauptaufgaben der Dichtung gehört, weil die Dichtung genau genommen überhaupt keine Aufgabe hat«.
So wenig es für ihn in Frage steht, dass ein Gedicht einen Menschen aufrühren und anstiften, dass es Denkformen zertrümmern und andere wachkitzeln kann, so heilig ist ihm das Poem als nicht korrumpierbares, einzig sich selbst verpflichtetes Geschöpf. Denn »als organisches Gebilde - wie eine Rose oder ein Gewitter - lässt sich ein Gedicht nur dann vollends verstehen und schätzen, wenn wir solche zweckgebundenen Erwägungen beiseite legen«.
Nicht um Donald Trump, den »verrückten König im Palast« aus seiner Rede, ging es denn auch in den Gedichten, die John Burnside am Freitagabend zum Beginn des diesjährigen »Poesiefestivals Berlin« im alten AdK-Gebäude im Hanseatenweg vortrug, sondern etwa um die magische Wirkung des Neuschnees auf die Bewohner einer schottischen Zechenstadt: »und sonntags, eingehüllt in Schals und schwere Mäntel,/ sah ich sie: vorsichtige, leichtfüßige Seelen,/ Geschöpfe dieser plötzlichen Lichtfülle,/ verblüfft darüber, wie geheimnisvoll sie waren.« Eben jene, hier durch den Schnee, recht eigentlich aber erst durch sein Gedicht hervorgerufene Verblüffung ist es, die Burnside am Herzen liegt. Der US-amerikanische Soziologe Morris Berman fand schon vor Jahrzehnten den Begriff von der »Wiederverzauberung der Welt«, als er gegen das »Newtonsche Zeitalter« polemisierte. Burnside redet vom »trügerischen Denkmodell der Objektivität«, das es in seiner zerstörerischen Ausschließlichkeit zu überwinden gelte. Er setzt ihm eine Lebenspraxis der »poiesis« entgegen, die in der Lage sei, sich aller anderen menschlichen Fähigkeiten zu erinnern als nur der Vernunft.
Dass den Zuhörern viele der Verse, die von Burnside und acht weiteren Dichtern aus weit verstreuten Ländern während der »langen Nacht der Poesie« vorgetragen wurden, wie unverständliche, aber wirkmächtige Zaubersprüche angemutet haben mögen, könnte zunächst einmal ganz profan daran gelegen haben, dass sie in der jeweiligen Originalsprache intoniert wurden. Wie immer beim »Weltklang«, der traditionellen Auftaktveranstaltung des Poesiefestivals, waren eingangs kleine Büchlein mit den deutschen Übersetzungen verteilt worden.
Wen, um in Burnsides Bild zu bleiben, der Duft der Rose nicht vollends befriedigte, und wer stattdessen auch näheres über die Beschaffenheit ihrer Blätter zu erfahren gedachte, der konnte die Ohren gen Bühne und die Augen ins Heft richten. Ein Blick in den Saal, in dem es leuchtete wie in einem Wald voller Glühwürmchen, zeigte, dass vom Gebrauch der ebenfalls ausgeteilten Leselämpchen ausgiebig Gebrauch gemacht wurde.
Das Gefühl, keiner Lesung, sondern einer Beschwörung beizuwohnen, wurde bestärkt durch das schamanische Auftreten einiger Dichter. Der Japaner Yasuki Fukushima etwa, der tatsächlich außer den Berufen des Dichters, Performers, DJs und Musikers auch den eines buddhistischen Priesters ausübt, wirbelte unter Hut und Sonnenbrille wie ein Derwisch über die Bühne, während er seine »geschrienen Tankas« improvisierte. Fukushima, ein kleiner, drahtiger Mann von unglaublichen 74 Jahren, hat die uralte Gedichtform der Tankas seit den 1960er Jahren mit aktuellen Inhalten gefüllt und zur Plattform umgedeutet, auf der er in ein musikalisch unterlegtes Gespräch mit anderen Dichtern tritt.
Die in Trinidad und Tabago geborene Kanadierin M. Nourbese Philip wiederum, im Brotberuf Rechtsanwältin, brachte neben ihrer Stimme eine Glocke, eine rasselnde Kette und ein Smartphone mit aufs Podium, um ihrem Langpoem »Zong!« Geltung zu verschaffen. Zusammengesetzt aus Bruchstücken eines Gerichtsberichts aus dem 18. Jahrhundert, ruft es anklagend den Tod von 150 Afrikanern auf einem Sklavenschiff in Erinnerung, das um einer Versicherungssumme willen versenkt worden war.
»Dichtung bewirkt nichts«, heißt es in W. H. Audens »Gedenken an W. B. Yeats«, an dem John Burnside sich in Widerspruch übte. »Dichtung«, so der Redner, kann »alles Mögliche bewirken, angefangen von Mitgefühl über freies Denken bis hin zur Willensbildung in Bezug auf den gesellschaftlichen und politischen Wandel«. In Klammern gesetzt, ergänzt Burnside dann das, was nicht unterschlagen werden sollte: »Natürlich kann Dichtung die Gesellschaft nicht verändern, das müssen wir schon selbst tun, sie kann uns jedoch eine Nahrung bieten, die uns bei dieser Aufgabe stärkt.«
Das »Poesiefestival Berlin« steht diesmal unter dem Motto »Europa_Fata Morgana« und wartet eine ganze Woche lang mit Lesungen, Konzerten, Gesprächen und Workshops auf, die sich den Problemen der Gegenwart auf eine andere Weise zu stellen versprechen, als es das Aktivistenplenum oder die Tageszeitung tun.
Poesiefestival Berlin, bis zum 24. Juni in der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Tiergarten, und anderswo. Weitere Informationen: www.haus-fuer-poesie.org
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