Empire ohne Kolonien
Die USA können nur mit Hilfe von Bündnispartnern wie der EU ihre geopolitische Führungsrolle aufrecht erhalten
Wenn über die USA gesprochen wird, ist oft vom amerikanischen Exzeptionalismus die Rede, also einer Sonderstellung unter den Industrieländern. Exzeptionell ist tatsächlich Einiges an den USA. Oft werden aber die Unterschiede zur »Alten Welt« überschätzt, so als würden in den USA nicht dieselben Regeln des Kapitalismus - vom Tendenzgesetz der Konkurrenz bis zum allgemeinen Gesetz der Akkumulation - gelten. Gleichwohl sind die USA eine besondere historische Gesellschaftsformation im Kapitalismus.
Die USA sind im Grund die einzige Kolonie der »Alten Welt«, die es zu einer Weltmacht gebracht hat. Brasilien oder Südafrika sind bis heute nur Schwellenländer. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Briten - im Gegensatz zu den Portugiesen und Spaniern in Süd- und Zentralamerika - die »Neue Welt« im 17. Jahrhundert zwar zunächst als billigen Rohstofflieferanten im Handelsdreieck zwischen Westafrika (Sklaven), Nordamerika (sklavenbasierte Baumwollplantagen) und England (industrielle Textilproduktion) nutzten. Zugleich aber plünderten sie die »Neue Welt« nicht nur völkermörderisch aus, wie dies das feudale Spanien und Portugal zur Finanzierung ihrer Königshäuser und feudalistischen Kriegs- und Raubökonomien taten. Stattdessen exportierten sie - in den Nordteil - auch die neue kapitalistische Produktionsweise.
Ingar Solty arbeitet bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu außen- und friedenspolitischen Fragen. Foto: Christina Kurby
Damit entledigte sich die britische Bourgeoisie auch ihrer »gefährlichen Klassen«, d.h. die bei der Geburt des Kapitalismus und den Umwälzungen der ursprünglichen Akkumulation im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert entstandenen Massen, die man bis dahin in den Arbeitshäusern drangsaliert hatte. »Gebt mir eure Müden, eure Armen, Eure geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen« - so steht es auf der Freiheitsstatue, die errichtet wurde, nachdem die USA sich in einem Verteilungskonflikt um die Besteuerungen aus der »Alten Welt« 1776 endlich ihres Kolonialstatus entledigt hatten. Zugleich forcierten die USA auf dem nordamerikanischen Kontinent selber einen Siedlerkolonialismus. Die neuen Siedler kamen zumeist als »Schuldknechte« in die »Neue Welt« und dienten als Bulldozer beim Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern.
Die zentrale politische Auseinandersetzung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, welche Produktionsweise den Schritt für Schritt von den »Indianern« eroberten Kontinent dominieren sollte: die sklavenbasierte Produktionsweise der Süd- oder die kapitalistisch-industrielle Produktionsweise der Nordstaaten. Im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) wurde diese Frage zugunsten des Nordens aufgelöst; und es begannen die wirtschaftliche Aufholjagd und der Aufstieg zur Weltmacht.
Vor dem Hintergrund des antikolonialen und messianischen Erbes eigneten sich die USA besonders für den heute vorherrschenden »neuen, informellen Imperialismus«. Die Grenze des Kapitals und des US-Staates lag bis 1890 im Innern des nordamerikanischen Kontinents; danach erfolgte im Rahmen einer hitzigen Debatte über die inneren Wachstumsgrenzen des Kapitalismus die Expansion nach außen. Schon 1823 hatten die USA mit der Monroe-Dok-trin Lateinamerika zu ihrem Hinterhof erklärt - damals noch defensiv. Jetzt wurde das Empire offensiv. Und nach einer kurzen Phase des formellen Imperialismus (Spanisch-Amerikanischer Krieg von 1898, Bau des Panamakanals ab 1903 etc.) schufen die USA einen neuen Empire-Typ, den des Empires ohne Kolonien. Für die neuen, überlegenen Fließband-Produktionsmöglichkeiten des Fordismus war diese Expansion unerlässlich.
Der neue Imperialismus der USA eroberte und kontrollierte Länder nun nicht mehr direkt (weil viel zu kostspielig), sondern schrieb seine Herrschaft in die Verfassungen dieser Länder ein - mit besonders vorteilhaften Bedingungen für das überlegene US-Kapital, mit dollarpolitischer Andockung, Militärbasen und dem Rechtsanspruch auf Interventionen bei Gefährdung von US-Investitionen. Der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt beobachtete diesen neuen Imperialismus früh und schrieb 1932 seinen Aufsatz über die »völkerrechtlichen Grundlagen des modernen Imperialismus«. 1945, nachdem der von Schmitt präferierte völkermörderische, deutsche Imperialismus dem US-amerikanischen unterlegen war, begannen die USA - auf dem Höhepunkt ihrer ökonomischen, politischen, militärischen und ideologischen Macht angekommen - damit, den globalen Kapitalismus wiederzuerrichten, und zwar mit einer Mischung aus Zwang, aber auch viel Konsens. Dies galt nicht zuletzt für Deutschland und seine Bourgeoisie. Der Konsens waren die Internationalisierung des New Deals (als keynesianischer Wohlfahrtsstaat), der Marshallplan und die bevorzugten Handelsbeziehungen für die Bourgeoisie in Westdeutschland.
Besonders erleichtert wurde diese imperiale Rolle des US-Staates aufgrund der Schwäche der Arbeiterbewegung im Innern. Als einziger in den entwickelten kapitalistischen Ländern war es dieser nicht gelungen, das Duopol der beiden bürgerlichen Parteien - Demokraten und Republikaner - zu brechen. Die Drittparteienstrategie war schon 1912 mit der Sozialistischen Partei von Eugene Debs gescheitert. Mit der neoliberalen Wende wurde diese Schwäche vertieft, weil der Volcker-Schock von 1979, der diese Wende mit einer der Hochzins-Hochdollar-Geldpolitik finalisierte, der US-Arbeiterbewegung das Rückgrat brach: Dieser erzwang nicht nur im Interesse des transnationalisierten Kapitals des »Westens« und mithilfe der US-dominierten Finanzinstitutionen Weltbank und IWF die Marktöffnung des globalen Südens und die Privatisierung seiner nationalen Reichtümer zugunsten des anlagesuchenden ausländischen Kapitals; er sorgte zudem für einen unvergleichbar dramatischen Rückgang der Gewerkschaftsdichte in den USA. Dies hat allerdings zugleich eine besondere Krise der Arbeiterklasse in den USA zur Folge und bildet den Hintergrund für den Neosozialismus von Bernie Sanders und Co.
Trotz alledem sind die Machtstaatsressourcen der USA heute geschwächt. Die große Herausforderung ist die Ein- und Unterordnung Chinas - als Werkbank der Welt - in die US-dominierte G8/G20-Weltwirtschaftsordnung. Hierfür nutzen die USA das gigantische Drohpotenzial ihres Militärs. Regieren aber kann das Empire nur noch durch seine Subimperien: insbesondere die deutschdominierte EU. Diese soll mit ihrer neuen Außen- und Aufrüstungspolitik den USA an den europäischen Außengrenzen von der Ukraine über Syrien bis Libyen und Mali den Rücken freihalten, während die USA sich in »Amerikas pazifischem Jahrhundert« (Hillary Clinton) auf den pazifischen Raum und China konzentrieren.
Zur Schwächung der US-Machtstaatsressourcen gehört jedoch auch die innenpolitische Dimension, dass der globale Freihandelskapitalismus und das Empire zunehmend an Legitimation verlieren. Auf der Welle dieser Unzufriedenheit schwamm Donald Trump 2016 gegen den Willen des transnational-imperialen Machtblocks ins Amt. Gleichwohl gelingt es diesem Machtblock zunehmend, den Präsidenten im eigenen Interesse einzuhegen: Einen (selektiven) Protektionismus, der neben China vor allem Deutschland mit seinen Leistungsbilanzüberschüssen treffen würde, wird Trump kaum realisieren können. Auf Fortsetzung der Russland-Sanktionen, Kehrtwende im Syrienkrieg, Akzeptanz der NATO, Forcierung der Sozialkürzungs- und Umverteilungspolitik zugunsten der obersten 0,1 Prozent wird auch die Aufrechterhaltung der neoliberalen Weltmarktintegration folgen. Das Hamburger G20-Treffen ist hierfür die Bühne.
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