Jeder verfuhrt auf seine Urt
»Das alte Spiel«: Gedichte von Jochen Jung - heitere Literatur gegen Belehrungsgemüter
Ideologie stärkt den Willen und schwächt den Verstand. Just diese Wahrheit stößt Fragen an: Wie kann der Mensch bewusster, willentlicher leben, ohne zum Opfer seiner instrumentell so verführbaren Vernunft zu werden? Wie wird Güte erzählbar, ohne dabei eine gute Welt zu lügen? Wie tut man sich gütlich an den Dingen des Alltags, ohne immer gleich das Elend der Welt mitdenken zu müssen? Es gibt eine Lebensfreude, die nimmt sich das Bier mitten im Wassermangel; die freut sich am Steak und bejaht zugleich glaubhaft die innige Tierliebe; Freude, die ist Feministinnen ebenso zugetan wie Alfred Hrdlickas Antwort auf die Frage nach der wichtigsten Eigenschaft einer Frau: High Heels. Herrlichste Feier des sinnenfrohen Mittelmaßes: Alles Große rechnet sich herunter; alles scheinbar Bedeutsame sucht nach dem geringsten gemeinsamen Nenner; alle Lust lacht über den Eifer der puristisch politischen Weltbetrachtung. Zum Beispiel: Die Menschen warten. Auf die bessere Welt? Auf Gerechtigkeit? Auf Erlösung? Auf grundlegende Antworten? »Auf Charon? Auf das Große Los? Nein,/ auf den Fünfundzwanziger.« Das Gedicht heißt: »Bushaltestelle.« Ein Lehrgedicht für Belehrungsgemüter.
Jochen Jung, Jahrgang 1942, Erzähler, Gründer des Salzburger Verlages Jung und Jung, hat Gedichte solch leichter Empfindungsart in einem Band zusammengefasst: »Das alte Spiel«. Es sind Verse, die alle gewählten wie zwanghaften Verhaltensweisen mit Gelassenheitszucker bestreuen: »Der Nachbar murrt/ Der Muslim surt// Jeder verfuhrt/ auf seine Urt«. So geht das durch sämtliche Gelegenheiten, vom Gewitter bis zum Urlaub, vom Klavier bis zum Strand. Der Dichter weint über das Glück, einen spitzen, geradezu schreibsüchtigen Bleistift zu besitzen, und er hat handfeste literarische Vorschläge: »Bei Depression und Weißnichtrecht/ lies Goethe und nicht Bertolt Brecht«.
Jungs poetisches Ego ist der Nebenstehende, Außenbleibende, es ist der Unfähige für Gleichschritt und Konsens, aber auch für Dauerstreit und Fundamentalopposition. Dieser Autor ist vor allem untalentiert, nur immer als ein Masseteilchen der Kommunikation zu existieren. Denn wie leben wir? Im Großen und Ganzen mit dem Gefühl der zwei Identitäten, die am Ende nur eine halbe ergeben: Als Arbeitswesen verwerten und verwalten wir - als Freizeitwesen aber, hineingestellt in die Gesetze von Markt und Konsum, sind wir dann selber Verwertete und Verwaltete. Deshalb feiert der Dichter jenen freiwillig Verstörten, der den Mut hat, sich der anmaßenden Dürftigkeit des Schwarms zu entziehen. Er ist ein Gemeinschaftsstümper. Er weiß, dass hinter jeder Realität eine noch ganz andere Option steckt - die einfach bloß aus dem Kerker des gerade Existierenden befreit werden muss. Jung vermittelt dies mit Sanftmut und Witz. Und Zuversicht: »Die Welt füllt sich mit Früchten/ trotz allen Untergangsgerüchten«.
Der Dichter als neuer Taugenichts - er ist gefügt aus lauter Bewusstseinsfragmenten, die sich gegen den Makro-Egoismus westlichen Zuschnitts richten, gegen den Systemterrorismus des Wachstums und der Stressproduktion. Im Grunde entwerfen Jungs Gedichte ein Programm des konservativen Menschen - so tapfer im Stillstand, da alle hetzen. So komisch in seinem Aufgerecktsein, da alle sich ducken. Er weiß immer, dass es zu wenig ist, was er persönlich für eine bessere Welt tun könnte; zum Mut, zu dem er aufruft, will er vorher immer wissen, ob er ihn auch selber hätte. Oder schon mal hatte. Er mag von den Leuten vielfach enttäuscht sein, aber er ist es nie so sehr, dass er ein Feindbild hätte. Er bleibt melancholisch gewogen - »den Kinderaugen und dem Morgenrot,/ dem Wiesenschaumkraut, das den Tod/ gelogen aussehn lässt, solang es blüht./ Kein Wunder, dass es mich grad dahin zieht.«
So werden Verse zu Wiedergängern der Romantik. Der Dichter misst sich nicht mit dem Betriebsgeist der Dinge. Er lebt das Staunen und das Ungeschickt, jene Einfalt also, von der es einst hieß, sie sei heilig - vielleicht verstehen wir erst heute wirklich, was damit gemeint ist. Lächerlich wirkt, wenn man diese Gedichte liest, jenes beflissene Zivilisationspersonal - diese Parteien-Krieger, diese Besserwisser, diese sehnigen oder klapprigen Lebensdurchmarschierer, diese Wahrheitsbesetzer, die fortwährend nur auf der klügeren Seite des Widerspruchs leben. Nein, so dichtet Jung, du bist ein Gesteigerter, wenn du den Blick der Dinge auf dir ruhen fühlst. Eine Huldigung des Übergangs, wie es Peter Handke versteht: »vom achtlosen Hinschauen zum achtsamen Betrachten«.
Jochen Jung: Das alte Spiel. Gedichte. Haymon, 168 S., geb., 19,90 €.
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