Sein Garten, seine Apfelbäume im britischen Suffolk waren Legende. Da lebte ein hochgelehrter Mensch - Berliner, Jude, frühzeitig deutscher Exilant, dann britischer Soldat gegen Hitler - am Schnittpunkt von natürlicher Wildnis und pflegerischem Amt. Da genoss ein Feinsinniger das Unkraut wie die Urbarmachung. Da lobte ein Poet der unmittelbaren und geheiligten Praxis den Wuchs und die Wartung, liebte die Lichtgeilheit sämtlicher Triebe und deren Zähmung durch Pflanzung, Zucht und Ernte. Nichts ist schöner als Natur, nichts ist anstrengender als Natur, nichts ist grausamer als Natur: Das Mickrige wird beseitigt. Und zwar vom Gärtner oder von den üppig sich ausbreitenden Lichträubern aus Laub - die in der Wildnis die Mehrheit bilden. Wer Natur als Gleichnis bemüht, sollte also vorsichtig sein.
Diesem großartigen Dichter Michael Hamburger (1924 - 2007) ist nun ein Poesiealbum gewidmet. Sein Werk, im Deutschen beheimatet bei Hanser und Folio, ist umkreisend und bedenkend, seine Gedichte erzählen - an der Grenze zur Prosa. Sie verzittern sich leidenschaftlich leise in Wurzelnähe zur Philosophie. Und in Lufthöhe zur Illusion - davon, was möglich wäre: »Dass wir nicht abermals behaupten,/ Was zu wissen wir vorgeben/ Was zu benötigen wir vorgeben/ Was wir vorgeben zu sein,/ Die wir die Sprungfedern der Freude/ Mit Verschwendung schmieren und Gier«.
In diesen Versen kommen Taube, Biene, Azurjungfer, Schwalbenschwanz, Nachtfalter, Tagfalter, Grüngestrichelter Brombeerfalter, Wintergeißblatt vor. Das sind nahezu prosaische Namen - und zugleich sind es Schlüsselworte, um zwei Räume, einen bekannten und einen unbekannten, zusammenzuschließen. Hamburger will wissen - und stößt auf die Unergründlichkeit. Er stößt also auf das, was Menschen, die tagtäglich mit Welterklärung beschäftigt sind, sichtlich überfordert. Ja, Erklärung, Aufklärung sind zu einem Reflexverhalten geworden, dem die Glaubwürdigkeit abhandenkam, auch wenn aus den Verlautbarungen von Kommentatoren, Ideologen, Analytikern noch immer, hie und da, Viertelwahrheiten entweichen. Eher: verpuffen. Hamburgers Gedichte - etwa über die Sicherheit, das Sterben, Metropolis, Hölderlin, Treblinka und die S-Bahn - beschwören das Dunkle und das Schwierige. Mit einer inständigen Hoffnung: »dass die Vernunft nicht noch zerstörerischer wird als die losgelassene Unvernunft«.
Hamburger erscheint in diesen Versen als Dichter, der sich hoch hinaus sehnt, aber den Himmel würde er sich freilich nie leerträumen - er weiß um dessen nutzbringende Funktion für den Obstbau. Sei es Regen, sei es Sonne, sei es Schatten. Doch kaum ist er ein Bodenständiger, gewieft in Ordnung, Kategorien und Arbeitsteilung, geht ein neuer Traum an den Start: »Mög’ es Beflügelte geben, zu/ Verbinden Erde, Wasser und Luft«.
Poesiealbum 329: Michael Hamburger. Auswahl von Walter Eckel, Grafik: Elmar Schenkel. Märkischer Verlag Wilhelmshorst, 34 S., br., 5 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1058391.am-boden-befluegelt.html