Das Höchste und das Niedrigste

Peter von Matt analysiert »Sieben Küsse« aus der Weltliteratur

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 2 Min.

In seinem jüngsten Buch analysiert der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt sieben bedeutende Küsse aus der Weltliteratur - und lotet damit den weiten Pendelausschlag vom unendlichen Unglück bis zum maßlosen Glück aus. Denn in diesen Küssen, in Literatur verwandelt von so unterschiedlichen Autoren wie Heinrich von Kleist, Franz Grillparzer und Gottfried Keller, Anton Tschechow, Virginia Woolf, F. Scott Fitzgerald und Marguerite Duras, kann ebenso das Höchste stecken wie das Niedrigste. Die liebende Vereinigung kann sich darin so gut verbergen wie das groteske Missverständnis - oder auch eine simple Verwechslung.

Peter von Matt hat in einer ganzen Reihe von Büchern auf die humane, ja geradezu anthropologisch notwendige Bedeutung von Literatur hingewiesen. Unter seinen Monographien und Essay-Sammlungen finden sich so beeindruckende Werke wie eine Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts (1983) oder ein Band über die Treulosen in der Literatur (1989). Ihr Autor kommt mit einigen verführerisch einfachen Grundannahmen aus: Literatur denke immer in Szenen, wobei im Belanglosen das Universelle gesehen wird. Jedes dichterische Werk habe seinen spezifisch historischen Moment, mithin einen konkreten Zeitkern, an dem sich historische wie soziale Konstellationen, individuelle wie gesellschaftliche Konflikte anlagern, die dann - weit über die Entstehungszeit hinwegwirkend - spätere Rezipientengenerationen zu faszinieren verstehen. Hier greift Peter von Matt unausgesprochen geschichtsphilosophische Reflexionen von Hegel bis zu Georg Lukács auf, etwa die Ansicht von der Literatur als dem Gedächtnis der Menschheit.

Überaus gern folgt der Leser der Faszination des Autors, der uns seine Lektüren klassischer Texte - mal minutiös, dann wieder auf breitem kultur- und literarhistorischen Hintergrund - vorführt. Eine Anstiftung zum Lesen der Texte, zum Neu- oder Wiederlesen, geht von dem Buch über diese »Sieben Küsse« aus. Was ließe sich Schöneres über literarhistorische Untersuchungen sagen, die gewiss nicht gerade zu den Bestsellern auf dem Buchmarkt zählen?

Der Text beginnt und endet mit einem luziden Fragment aus der Feder des Frühromantikers Novalis: »Es ist seltsam, daß in einer guten Erzählung allemal etwas Heimliches ist - etwas Unbegreifliches. Die Geschichte scheint noch uneröffnete Augen in uns zu berühren - und wir stehn in einer ganz andern Welt, wenn wir aus dem Gebiete zurückkommen.« Peter von Matt gelingt es glänzend, Unbegreifliches zumindest fassbarer zu machen, ohne dabei das Heimliche völlig preiszugeben.

Peter von Matt: Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur. Hanser, 288 S., geb., 22 €.

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