nd-aktuell.de / 19.08.2017 / Kultur / Seite 22

Eine kindliche Depression

Wenn Eltern die Begeisterung ihrer Kinder nicht mehr nachvollziehen können

Ich will hier eine Geschichte erzählen, die den Einbruch einer Depression in das Leben einer Siebenjährigen beleuchtet. Das Mädchen hatte die Mutter um Erlaubnis gebeten, einen Jahrmarkt zu besuchen, der in ihrem Heimatort veranstaltet wurde. Dort sah es am Geschäft eines Schaustellers zum ersten Mal in seinem Leben eine mechanische Orgel in vollem Betrieb. Der Eindruck war überwältigend. Eine wunderbare, den ganzen Körper durchdringende, rhythmische Musik griff nach ihr und in sie wie eine Geisterhand. Dazu kam noch das Schauspiel von silbern glänzenden Figuren, die im Takt des Schmetterns der Pfeifen auf kleine Trommeln und Tamburine schlugen. Die Siebenjährige war begeistert, sie versank in den Anblick, ließ sich mitreißen, von Entzücken erfüllt.

Dann stieg eine Spannung in ihr auf, der Genuss trübte sich, sie wäre am liebsten weggelaufen und konnte es doch nicht. Allmählich nahm ihre Trauer und Furcht Gestalt an: Sie stand hier allein, sie genoss diese atemberaubende Schönheit allein, ganz für sich und egoistisch. Sie hatte nicht an ihre Mutter gedacht, die zu Hause war und dieses Schöne nicht genießen konnte, obwohl sie das sollte, ja musste! Jetzt wusste das Mädchen genau, was zu tun war: zur Mama laufen, sie herbeiholen, damit auch sie dieses Wunderbare genießen, den Rausch der Töne und Bewegungen mit ihr teilen konnte.

Gedacht, getan. Die Mutter stand in der Küche und war beschäftigt. Erst begriff sie nicht, was ihre Tochter wollte. Die Kleine war so eifrig, fordernd und fast den Tränen nahe, wenn die Mutter nicht gleich mitkam und sah, was da so schön war, dass es unbedingt gesehen werden musste, Figuren, die Musik machten, bitte, bitte, komm doch mit, es dauert nicht lange!

Endlich trocknete die Mutter die Hände an der Schürze ab, hing sie an den Haken und ging mit. Dann stand sie neben der Tochter und sah die Jahrmarktsorgel, die sie schon ein Dutzend Mal gesehen hatte. Was sollte das besonderes sein, Jahrmarktsvergnügen eben. Schritt für Schritt, während das Kind den Mangel an Begeisterung bei der Mutter sah, verschwand auch die eigene Begeisterung. Die Orgel war nicht mehr schön, die Musik klang blechern und gewöhnlich, konnte es sein, dass es immer dieselbe Melodie war? »Was soll das schon sein? Für dieses Gedudel hast du mich von meiner Arbeit weggeholt! Das nächste Mal überleg dir das vorher!«

Das Kind verstand jetzt auch nicht mehr, warum es die Mutter dabeihaben wollte. Es hatte die Freude an der Orgel und an dem ganzen Jahrmarkt mit Schießbuden, einem Karussell, Ständen mit Süßigkeiten und dem großen Bierzelt verloren, ging mit der Mutter nach Hause, fühlte sich erschöpft und müde.

Während das Ende der Szene einfühlbar ist, gleicht ihr Anfang durchaus dem Rätsel, welches das Einsetzen der Depression bei Erwachsenen umgibt. Was hindert die Siebenjährige, den von ihr soeben entdeckten Genuss alleine auszukosten, bis er sich erschöpft und beginnt, die kleine Zuschauerin zu langweilen? Warum hat sie plötzlich keine Freude mehr, sondern Angst, die sie dazu zwingt, die Fantasie zu entwickeln, sie müsse die Mutter dazu bringen, sich ebenso zu freuen wie sie?

Die Analyse der Kindheitserinnerung ergibt, dass das kleine Mädchen eine angespannte Beziehung zur Mutter hat. Es beneidet die Mutter um ihre Privilegien und ihre Macht, um den Platz an der Seite des Vaters. Es nährt in sich Gefühle, von der Mutter gegenüber dem Bruder benachteiligt zu sein. Zu den elementaren Qualitäten des menschlichen Erlebens gehört es nun, dass wir bedeutungsvolle Personen, von denen wir uns abhängig fühlen, durch die Brille der eigenen Affekte sehen.

In dem Glücksmoment hat das Mädchen die Mutter vergessen. Es hat sich entspannt und in der Begegnung mit dem schönen Erlebnis treiben lassen. Dann meldet sich mit einem Schlag die Angst. Das Kind erschrickt vor sich selbst, vor seiner Sorglosigkeit, seiner Nachlässigkeit. Für einen viel zu langen Moment hat es nicht an die Mutter gedacht und sich seiner Autonomie erfreut, die Mutter war ganz überflüssig, alle Pflichten, welche die Mutter ihm auferlegte, waren vergessen - lebte die Mutter noch, oder war sie vielleicht sogar schon verschwunden, war verstorben, war einfach weg? Das Kind erschrak, wie jemand erschrecken mag, der sich nach dem Tod eines nahestehenden Menschen zu dauernder Trauer verpflichtet fühlt und plötzlich bemerkt, dass er gedankenlos seinen Tee und sein Sandwich genossen hat.