Eine solche Bandbreite deckt kaum ein Musiker ab. Francesco Tristano spielt am Klavier eine wilde Mischung aus Barock und Neuer Musik, Jazz und Clubsounds. Außerdem komponiert und dirigiert der 36-Jährige, der zwischen Barcelona und seiner Heimat Luxemburg pendelt. Markenzeichen sind seine an Filmmusik erinnernden Eigenkompositionen, die stilistisch unterschiedlichste Versatzstücke unbefangen mischen und in Loops übereinandertürmen.
Seinen Durchbruch hatte Francesco Tristano vor zehn Jahren mit dem Album »Not for Piano«, auf dem er furios treibenden Techno am Konzertflügel spielte. Damals war eine solche Verbindung von Hoch- und Popkultur noch etwas Außergewöhnliches. Inzwischen machen sich immer mehr Künstler daran, den klassischen Konzertbetrieb aufzumischen; von dem Schlagzeuger Martin Grubinger bis zu Cameron Carpenter an der Orgel. Die Grenzen zwischen E und U werden durchlässiger.
Auf seinem neuen Album »Piano Circle Songs« verzichtet Tristano auf Elektronik. »Zwei Hände, Live-Aufnahme, kein Overdubbing, minimale Post-Production«, umreißt der Künstler sein Konzept. An diesem Mittwoch präsentiert er die neue Platte am im Funkhaus Berlin.
Mit dem legendären Jazzpianisten Lennie Tristano ist der Musiker nicht verwandt. Tristano ist eigentlich sein zweiter Vorname; die Mutter war Wagner-Fan und liebte »Tristan und Isolde«. Der begabte Knabe begann zunächst die klassische Musikausbildung und landete am New Yorker Elite-Konservatorium, der Juilliard School. Die Welt der elektronischen Klänge in den Clubs lockte ihn jedoch auf einen neuen Pfad. Seither spielt und produziert er Jazz und Techno. Vor ein paar Monaten erschien seine Platte »Versus« in Zusammenarbeit mit der Detroiter Techno-Legende Carl Craig.
Auf »Piano Circle Songs« erkundet Francesco Tristano hingegen seine sanfte Seite. »Ich liebe Beats und den konstanten Puls. Für mich ist das Klavier in erster Linie ein Schlaginstrument«, erzählt der Pianist. »Doch ich wollte auch mal den Fokus auf das Liedhafte legen. Das stellt für mich eine besondere Herausforderung dar.« Die Hinwendung zur Melodie habe auch mit seinen Kindern zu tun, so der Pianist. »Ich habe gemerkt: Wenn sie die Stücke mitsingen, die ich am Klavier komponiere, dann liege ich richtig.«
In der Tat wirken die schlichten Eigenkompositionen zuweilen wie Kinderlieder. Vorbilder habe er nicht gehabt, sagt Tristano. Beim Hören denkt man an Schumanns »Kinderszenen« oder Mendelssohns »Lieder ohne Worte«. Wobei Tristanos Anknüpfung an die romantische Tradition durchaus nostalgisch wirkt - ein Eindruck, den die schlichte, quasi »kreisförmige« A-B-A-Form der Stücke verstärkt. Die Geschichte der Tonalität von Dur und Moll ist für Tristano noch nicht zu Ende erzählt. »Ich habe mich intensiv mit atonaler und polytonaler Musik beschäftigt. Aber eine Melodie, die man sich merken kann, ist nur in Dur oder Moll möglich.«, ist der Künstler überzeugt.
Um ein echtes Soloalbum handelt es sich nicht, ist doch auf vier Tracks der kanadische Songwriter Chilly Gonzales zu hören, der zudem das rhythmisch taumelnde Stück »Tryst« beigesteuert hat. Im Vorfeld philosophierten Gonzales und Tristano über die geometrische Form des Kreises. »Der Kreis ist schlicht und zugleich vollkommen, und er beinhaltet die Idee eines Kreislaufs, etwa der Jahreszeiten«, erzählt Tristano. »All das hat mich musikalisch inspiriert.« Chilly Gonzales wiederum brachte Platons Idee der idealen Form ins Gespräch. »Woher wissen wir, dass ein Gegenstand kreisförmig ist? Wir vergleichen ihn mit unserer Vorstellung eines idealen Kreises«, holt der kanadische Künstler aus. »In der Musik wird die platonische Idealform vom Klavier repräsentiert. Sogar eine große Oper kann auf das Klavier reduziert werden.«
Auf die modernen Möglichkeiten der Sound-Modellierung wollen die Künstler nicht verzichten. Tristano nutzt die Technik, um die Intimität des einsamen Klavierspiels einzufangen: Dicht über den Saiten im Bauch des Flügels positionierte Mikrofone locken den Hörer gleichsam ins Instrument hinein. »Dadurch vernimmt man auch die Nebengeräusche; den Klang der Dämpfer, Tasten und Pedale oder meiner Finger«, erklärt der Pianist. Was sonst als Störgeräusch gilt, speist Tristano wieder in den Kreislauf der Kunst ein.
Francesco Tristano: »Piano Circle Songs« (Sony Classical) Live am 6. September, 20.30 Uhr, im Funkhaus Berlin, Nalepastraße 18, Rummelsburg
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1062852.kreiselnde-lieder.html