Aus der Sicht eines Sozialrevolutionärs

Viktor Schklowskij erzählt in »Sentimentale Reise« völlig unsentimental von Revolution und Bürgerkrieg in Russland

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Viktor Schklowskij (1893 - 1984) gehört zu den schillerndsten Gestalten der russischen Kultur. Weniamin Kawerin, Olga Forsch, Wsewolod Iwanow und Andrej Platonow porträtierten ihn in ihren Romanen der 1920er Jahre. Zwei Bücher schrieb Schklowskij im Berliner Exil. Das eine, »Sentimentale Reise. Erinnerungen 1917 - 1922«, widmete er seiner Frau Ljusja, die bei der Tscheka in Geiselhaft saß. Es schließt mit den Worten: »... jetzt lebe ich unter Emigranten und verwandle mich in einen Schatten unter Schatten.« Das andere hieß »Zoo oder Briefe nicht über die Liebe«, trug den Untertitel »Die Dritte Heloise« und war Elsa Triolet, der Schwester Lilja Briks, gewidmet. Es endet mit einer Eingabe an das Zentrale Exekutivkomitee der UdSSR: »Ich möchte zurück nach Russland.«

Prosa, in der sich der Autor von außen betrachtet und auf den Prüfstand seiner Zeit stellt - beide Texte folgen der Devise, die Schklowskij im Essay »Literatur ohne Sujet« (1921) aufgestellt hat, wo er betont, man dürfe ein Buch nicht in den Rahmen eines Genres pressen, sondern müsse den Kanon des Genres »parodieren oder ummodeln«. »Sentimentale Reise« parodiert Laurence Sternes »Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien von Mr. Yorick«, ist aber kein auf Selbstbeobachtung konzentrierter sinnenfroher Bildungsroman, sondern ein rational gesteuertes, assoziativ und sprunghaft dargebotenes Zeitbild. Auf Deutsch ist das Werk 1964 im Frankfurter Insel-Verlag in einer stark gekürzten Version erschienen. Jetzt hat Olga Radetzkaja in der Anderen Bibliothek die vollständige Fassung des Romans in einer glänzenden Übertragung vorgelegt. Ein Nachwort von Anselm Bühling und umfangreiche Anmerkungen komplettieren die Ausgabe. Schklowskij berichtet darin authentisch und völlig unsentimental über fünf Jahre seines Lebens in Revolution und Bürgerkrieg, in denen er »ehrlich gelebt«, nicht nur »gekämpft«, sondern »auch Bücher geschrieben« habe.

Als Schwerpunkte der »Sentimentalen Reise« nennt der Autor seine Erlebnisse als Soldat während der Februarrevolution in Petrograd, den Einsatz als Militärkommissar der Provisorischen Regierung in Galizien, wo er verwundet wurde und das Georgskreuz erhielt, den Stellungskrieg in Persien und den Kriegskommunismus im halbzerstörten Petrograd, wo er im »Haus der Künste«, im Verlag »Weltliteratur« und bei den »Serapionsbrüdern«, in denen er seine »Schüler« sah, neue literaturtheoretische Ansichten entwickelte. Sein subjektives Zeitbild bestätigt, was manche Historiker heute über die Relation zwischen der vom Volk getragenen Februarrevolution und dem Oktoberumsturz der Bolschewiki sagen.

Schklowskijs Leben verlief mehr als abenteuerlich. In Petersburg in der Familie eines Lehrers und getauften Juden geboren, suchte er schon als Gymnasiast und Philologiestudent Kontakt zu den berühmten Dichtern seiner Zeit - Block, Mandelstam, Achmatowa, Chlebnikow und Majakowski. Bei Kriegsausbruch meldete er sich freiwillig, wurde Ausbilder an einer Schule für Panzerwagenfahrer. Als für die Panzertruppen verantwortlicher Militärkommissar beim ZK der Partei der Sozialrevolutionäre und Emissär der Provisorischen Regierung Kerenskis führte ihn der Bürgerkrieg weit herum und mit erbitterten Gegnern der Bolschewiki wie dem Terroristen Boris Sawinkow und General Kornilow zusammen. Sein Bruder Nikolai, auch ein Sozialrevolutionär, wurde 1918 erschossen.

Nachdem Gorki sich für ihn eingesetzt hatte, kehrte Schklowskij Anfang 1919 nach Petrograd zurück. Er bekam eine Professur am Institut für Kunstgeschichte, schrieb literaturwissenschaftliche Essays. Als die Sowjetregierung den Sozialrevolutionären den Prozess machte, floh er über Finnland nach Berlin, wo er sich von April 1922 bis Juni 1923 aufhielt. Gorkis und Majakowskis Bemühungen bahnten ihm den Weg in die Heimat.

Den Kunstinteressierten ist Schklowskij vor allem als Literatur- und Filmwissenschaftler bekannt. 1914/16 löste er mit den Essays »Die Erweckung des Wortes« und »Kunst als Verfahren« eine theoretische Debatte aus, die den Intentionen des russischen Futurismus Auftrieb gab. Das Ziel der Kunst sei die Vermittlung eines Empfindens, das uns durch die Verfahren der »Verfremdung« und der »erschwerten Wahrnehmung« die Dinge sehen und nicht nur wiedererkennen und das »Machen der Dinge« erleben lässt. In enger Zusammenarbeit mit Juri Tynjanow, Boris Eichenbaum, Osip Brik und Roman Jakobson entwickelte Schklowskij mit Werken wie »Theorie der Prosa« (1925), »Dritte Fabrik« (1926) und »Hamburger Vergleich« (1928) die Grundlagen der Russischen Formalen Schule. Unter dem Druck der Parteiideologen sah er sich 1930 gezwungen, seine wissenschaftlichen Ansichten zu widerrufen. Sein älterer Bruder Wladimir, ein Französischlehrer, fiel 1937 Stalins Terror zum Opfer. Erst nach dem Tod des Diktators fand Schklowskij als Literaturtheoretiker wieder Anklang.

Viktor Schklowskij: Sentimentale Reise. Aus dem Russischen und mit einer Nachbemerkung von Olga Radetzkaja. Anmerkungen und Nachwort von Anselm Bühling. Die Andere Bibliothek, Bd. 390. 492 S., geb., 42 €.

Buchvorstellung am 19. September, 20 Uhr, im Literaturhaus Berlin.

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