Fackel in düsterer Finsternis

Das Werk von Franz Kafka gehört zu den meistinterpretierten der Literaturgeschichte. Noch heute birgt es Geheimnisse. Das Schreiben war für Kafka aber vor allem ein Bewältigungsakt bürgerlicher Repression. Von Mesut Bayraktar

  • Mesut Bayraktar
  • Lesedauer: 7 Min.

Franz Kafka hinterließ 1924 ein vielschichtiges Werk, das bis heute zu einem der meistdiskutierten Phänomene geworden ist. Sein Werk ist eine hoffnungsumwobene Fackel und düsterste Finsternis. Doch vor allem ist es radikal. 1912 schrieb er programmatisch in sein Tagebuch: »Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein.« Die Explosivität, die seine Werke besitzen, um die Wände einzureißen, hinter denen das Humane durch die Macht inhumaner Verhältnisse gesperrt wird, reiht Kafka unter die Schriftsteller der sozialen Freiheit. Die Tagebücher eröffnen das psychologische Feld, wo Kafka seine Gedankenwelt und sein Leiden an der »Gewalt des Lebens« ausformulierte. Sie erlauben drei Grundfaktoren freizulegen, die Zugang zu seiner komplexen Psychologie eröffnen.

Erstens: Wie viele stößt Kafka an äußere Widerstände seiner Zeit, an denen der innere Widerstand sich entweder bewährt oder an denen er bricht. Diese äußeren Widerstände fordern zum Kampf um den eigenen Platz auf der Welt fortwährend heraus. Der erste äußere Widerstand ist für gewöhnlich die heterosexuell konstituierte Familie als die singuläre Gruppe, die das Sozialisierungsportal zur klassengeteilten Gesamtgesellschaft bildet. Diese Familie ist die erste Gesellschaft im engeren Sinn, die das Kind kennenlernt. Hier begegnen wir dem ersten wesentlichen Faktor mit Blick auf Kafka: sein Vater, der bürgerliche Patriarch. In den Tagebüchern sind viele Passagen über den herrischen Vater enthalten. Nirgendwo ist diese Beziehung jedoch so scharf zu lesen, wie in seinem »Brief an den Vater«: »Ich wäre glücklich gewesen, Dich als Freund, als Chef, als Onkel, als Großvater, ja selbst (...) als Schwiegervater zu haben. Nur eben als Vater warst Du zu stark für mich, besonders da meine Brüder klein starben, die Schwestern erst lange nachher kamen, ich also den ersten Stoß ganz allein aushalten mußte, dazu war ich viel zu schwach.«

Der Autor

Mesut Bayraktar (27) hat Rechtswissenschaften in Düsseldorf, Lausanne und Köln studiert und war bis vor Kurzem als Rechtsreferendar am Landgericht Stuttgart angestellt. Zurzeit studiert er im Zweitstudium Philosophie in Stuttgart. Er ist Hauptredakteur der Literaturzeitschrift Nous.-Neue Literatur (www.nous-online.net), die er 2013 mit Kamil Tybel gegründet hat. Er schreibt Essays, Erzählungen und Theaterstücke.

Dieser erste Stoß war der erste Widerstand, den Kafka nicht bewältigen konnte. Dass er sein Verhältnis mit seiner Mutter zu bewältigen wusste, zeigt beispielsweise der Umstand, dass er den »Brief an den Vater« zunächst der Mutter anvertraute. Nach ihrer Durchsicht hatte sie allerdings die Weitergabe an den Vater unterlassen. Dieser Umstand ist bezeichnend für das Eltern-Sohn-Verhältnis.

Der zweite Faktor: der Beruf. Kafka war promovierter Jurist. Er arbeitete größtenteils bei einer Arbeiter-Unfall-Versicherung. Diese Arbeit bezeichnete er als »Brotberuf,« die er verachtete. In vielen Einträgen lässt sich diese Haltung ablesen. Exemplarisch: »Mein Posten ist mir unerträglich, weil er meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf, das ist die Literatur, widerspricht. Da ich nichts anderes bin als Literatur und nichts anderes sein kann und will, so kann mich mein Posten niemals zu sich reißen, wohl aber kann er mich gänzlich zerrütten.« Auch lässt sich an den großartigen Roman »Amerika« denken, in dem er Arbeitsverhältnisse schildert, in denen alle in einem unerbittlichen Existenzkampf gegeneinander stehen und Karl Roßmann, der »Schuldlose«, zerbricht.

Kafka litt bis zur Unerträglichkeit an seinem bürgerlichen Beruf. Ein Beweis hierfür ist auch seine Zeiteinteilung, worüber er sich seitenweise beklagt. Der gesellschaftliche Druck lastete auch nach Arbeitsende auf ihm. Die optimale Zeiteinteilung, um »Literatur zu sein«, gelingt nicht. Die Selbstvorwürfe gehen vielmehr ins Uferlose. Er schreibt zum Verhältnis seines juristischen Berufs zur literarischen Berufung: »Nur ist es eben für mich ein schreckliches Doppelleben, aus dem es wahrscheinlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt.«

Der dritte Faktor: die Ehe, in Kafkas Fall: die sich anbahnende Ehe mit Felice Bauer: »Zusammenstellung alles dessen, was für und gegen meine Heirat spricht: (...) 3. Ich muß viel allein sein. Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins. 4. Alles, was sich nicht auf Literatur bezieht, hasse ich (...) 5. Die Angst vor der Verbindung, dem Hinüberfließen.« Die Heirat - nicht die Frau oder sein sinnliches Verlangen - erscheint ihm als Bedrohung, also die Institution Ehe. Außer dem Schreiben hasst er zwischenzeitlich alles. Denn alles andere schließt die Abwesenheit von Schreiben ein. Mit der Ehe muss er »hinüberfließen« zum Anderen, das ihn von sich entfernt, indem eheliche Pflichten entstehen, wo doch das Für-sich-Sein seine einzige Bewährung im Nebel abgefeuerter Kanonen ist, der sich mit dem Ersten Weltkrieg über den Globus legt. Von der Liebe hatte er hingegen einen ganz bewussten Begriff. Seine Briefe an Felice Bauer können davon Zeugnis ablegen, in denen er auf der einen Seite seine Unfähigkeit zur Ehe erklärt und auf der anderen Seite seine Liebe aufrichtig beteuert. Die Ehe verunmöglicht seine Liebe zu Felice Bauer.

Kafka scheitert also an den allmählichen Obligationen der bürgerlichen Lebensweise: an der bürgerlichen Familie, am bürgerlichen Beruf, an der bürgerlichen Ehe. Diese Faktoren hatten wesentlich zur psychologischen Entwicklung Kafkas beigetragen. Ihre einheitliche Substanz ist die bürgerliche Gesellschaft selbst. Insofern waren die düstere Einsamkeit, die Kälte seines Verlassen-Seins und das tödliche Gift der Verzweiflung Auswüchse seiner Lebensumstände, die Ansprüche an ihn stellten, denen er nicht gerecht wurde. Dabei sehnte sich Kafka danach, Teil eines sinnvollen Ganzen zu sein, wie im Tagebuch zu lesen. Auch seine quasi-literarischen Protokolle in der Unfallversicherungsanstalt über die gefährlichen Arbeitsbedingungen der Arbeiterschaft bezeugen das. Max Brod bestätigt in seiner Biografie, dass Kafka Sympathien für die Bestrebungen, aber auch Mitgefühl mit den Leiden der Arbeiterklasse hatte. Überhaupt spielt der Gedanke der sozialen Geborgenheit, wie er zum Beispiel in dem Roman »Das Schloss« zum Ausdruck kommt, eine zentrale, aber bisher leider wenig beachtete Rolle in seinem Werk.

Aus der Einheit jener Faktoren bildet sich die Seinsfläche Kafkas, auf der sich seine bedrängte Psychologie erhebt. Welche Konsequenz hatte die dreiseitige Unterdrückung?

Kafka stand als eine energische Natur auch in einer energischen Aktivität zum Leben. Seine durchlässige Sensibilität - die sich auch in seinem literarischen Akribismus niederschlägt -, die Weltgesamtheit im verdichteten Moment ihrer Flüchtigkeit zusammenzufassen, machte ihn transparent mit seinem Sein, über das er ein bemerkenswertes Bewusstsein entwickelt hatte. Die Widerstände konnte er nicht überwinden, aber sich mit ihnen auch nicht arrangieren. Gerade die bewusste Konfrontation mit diesen Widerständen, die Verengung seines Bezugs zu ihnen, machte ihn zum Radikalen, derart radikal, dass er stets das Finale sucht: Leben oder Tod.

Diese Rigorosität durchzieht all seine Werke. Sie ist das Suchen nach der Wesentlichkeit der Dinge und die Deutlichmachung der Undeutlichkeit des Menschen. Sie ist der Ausdruck seiner Wahrheitsliebe. Die aufschäumende Energie prallte an den Widerständen auf ihn zurück. Sie wurde inwendig. Die Widerstände schufen eine virulente Verdrängung und je massiver der Lebenswille war, desto massiver wurde die Verdrängung. Sie schuf in ihrer Totalität das Über-Ich im Ich Kafkas. Aus ihm entsprang sein widerspenstiges Schuldbewusstsein, das als Konditionierungsmedium bürgerlich-herrschaftlicher Autorität in ihm das Scheitern zu Autoritäten über ihn machte, und gleichsam seinem Ich permanent den Vorwurf erhob: Pass dich an, du Versager!

Man kennt diesen Tenor aus seinen Werken, in denen alle Hauptfiguren scheitern und eine unüberhörbare Klage hinterlassen. Dieser Zustand zerstörte ihn. »Die systematische Zerstörung meiner selbst im Laufe der Jahre ist erstaunlich, es war wie ein langsam sich entwickelnder Dammbruch, eine Aktion voll Absicht.« Daher seine tiefe Verzweiflung. Doch gerade hier entfaltet sich auch »die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und sie befreien, ohne zu zerreißen.« Wie sollte sich also die verdrängte Energie entladen? Wie die Widerstände bewältigen?

Im Schreiben! Daher ist die Schlussfolgerung logisch, dass Kafka eine Schreibneurose hatte - weniger im pathologischen als im existenziellen Sinn -, die einen Abzugskanal und Bewältigungsakt gegen die vom Bürgertum erzeugten Widerstände darstellt. Die Schreibneurose wurde zum psychologischen Resonanzboden seines Schaffens. Kafka erschien das Schreiben als sich selbst bezweckender Erlösungsversuch seiner geräderten Existenz, was in einem der Höhepunkte seiner Tagebücher gipfelt, als er »Das Urteil« in einer ganzen Nacht schrieb. »Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.«

Insofern war seine obsessive Schreibaktivität die Synthese, die sich aus dem Gegensatz totaler Lebensbejahung in sich und der völligen Lebensbeschneidung außer sich konstituierte. Erst ab hier lässt sich über das Ästhetische in Kafkas Werk sprechen, nicht vorher.

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