Marcel Nguyen wollte die Belastung runterfahren, auch mal was anderes machen als immer nur zu trainieren. Am Ende trainierte der Turner aus München noch mehr als sonst. Im Jahr nach den Olympischen Spielen in Rio ging Nguyen neue Wege. Den Mehrkampf ließ er sausen, dafür ging es ins Tanzstudio, weil er sich mit Kollege Andreas Bretschneider für eine Fernsehtanzshow angemeldet hatte. Neben dem regulären Turnen - täglich sechs Stunden - übte er nun noch Pirouettendrehen, Schritte zählen, und wie man sich möglichst sexy das T-Shirt vom Leib reißt. »Das war eine lustige Abwechslung«, sagte Nguyen. »Ich musste aufpassen, dass ich das Turnen nicht vernachlässige. Beim Tanzen wollte ich mich aber auch nicht blamieren.«
Die Doppelbelastung dauerte zum Glück für den Bundestrainer nicht besonders lange an. Bretschneider und Nguyen flogen früh aus der Show. Der konzentrierten Vorbereitung auf die an diesem Montag in Montreal startende WM stand also nicht allzu viel im Weg. Dass Nguyen überhaupt daran teilnimmt, war nicht unbedingt zu erwarten. Nach den Olympischen Spielen 2012 in London, bei denen er überraschend im Mehrkampf und an seinem Lieblingsgerät, dem Barren, jeweils Silber gewonnen hatte, ließ er die folgende WM sogar ganz weg. »Damals hatte ich Bock auf etwas Neues. Da es diesmal nur eine Einzelgeräte-WM ist, war die Vorbereitung dafür mit weniger Aufwand verbunden, also konnte ich beides angehen«, so Nguyen.
Zudem weiß der 30-Jährige heute, dass es - ähnlich wie beim Eiskunstlauf - wichtig ist, sich bei den Wertungsrichtern in Erinnerung zu halten: »Es hat Vorteile, wenn ich mich immer wieder auf den Meisterschaften zeige.« In Kanada wird Nguyen aber an maximal zwei Geräten turnen anstatt an allen sechs wie bei Titelkämpfen, bei denen auch Mannschaftsmedaillen verteilt werden. Nur am Barren, an dem er zweimal Europameister war, rechnet er sich etwas aus. »Da habe ich noch eine gute Übung, mit der ich bei Olympia nur knapp das Finale verpasst habe. Wenn ich gut durchkomme, kann ich ins WM-Finale kommen, und dann ist alles möglich«, beschreibt Nguyen seine Ziele. »Nur am Barren habe ich Chancen, also konzentriere ich mich darauf. Wenn es nicht klappt, kann es dann natürlich auch ganz schnell vorbei sein«, weiß er auch um das Risiko, dass eine WM mit wenigen Einsätzen schon nach kleinen Fehlern sofort als Enttäuschung endet.
Da die Spezialisierung auf einzelne Geräte im internationalen Turnen aber immer weiter voranschreitet, wollte Nguyen diesen Weg gehen. Eine Regeländerung des Weltverbands änderte nun aber auch diesen Entschluss. »Ich wollte eigentlich gar keinen Mehrkampf mehr turnen, doch für die nächsten Olympischen Spiele wurde das System geändert«, erklärt er. Die Mannschaften werden um je einen Turner kleiner, so dass es im Team keine Streichresultate mehr geben wird. Ein Gerät auszulassen ist nicht mehr möglich. »Alle müssen alles turnen. Wenn ich also noch mal zu den Spielen will, habe ich keine andere Wahl, als wieder den Mehrkampf zu turnen«, weiß Nguyen.
2017 wollte er trotzdem ruhiger angehen lassen. Nach Rio 2016 wurden die Einzelelemente ohnehin neu bewertet, so dass jetzt die Zeit gekommen ist, neue Übungen für Tokio 2020 einzustudieren. Nguyen trainiert sich also an anderen Geräten neue Elemente an, doch sitzen sie noch längst nicht sicher genug, um sie bei Weltmeisterschaften zu zeigen.
Das minimierte aber immerhin den Trainingsdruck, und es blieb ein bisschen Zeit zum Tanzen. Ob das denn auch dem Turnen geholfen habe? Nguyen: »Wenn ich ehrlich bin: Nur sehr wenig. Beim Tanzen brauchst du eine lockere Hüfte, beim Turnen muss sie steif bleiben. Sonst sieht das gar nicht gut aus.«
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1065542.zum-mehrkampf-gezwungen.html