Welch angenehme Nachricht: Das Vogler Quartett, 1985 in der DDR gegründet und über Jahre ständiger Gast im Konzerthaus, ist fortan wieder regelmäßig in diesem Haus zu hören. Am Samstag spielte es Werke von Schubert, Dvořák und Adolf Busch im bestens besetzten Kammermusiksaal. Es ist eine Freude, die vier Männer anzuhören. Vital, intelligent, auch dem Neuen zugewandt ihr Musizier- und Programmkonzept. Alle großen Quartette - von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms über Verdi, Debussy, Schönberg, Berg, Webern bis zu Kompositionen der Gegenwart - haben sie aufgeführt. Dvořáks Quartettschaffen entdeckten sie alsbald für sich und waren fasziniert. Dessen 8. Quartett von 1876, viersätzig, farben- und geistreich, durfte in ihrem jüngsten Programm nicht fehlen. Charakteristisch der slawisch gefärbte zweite Satz. Den Ohren schmeichelte ein unerhört gedehnter, ständig sich überschreibender und neu belebender Walzer.
Der Abend eröffnete mit Schuberts Streichquartettsatz c-moll »Allegro assai«. Schockartiges gleich zu Beginn. Die Voglers heben unisono wie Schreie eines wilden Tieres an. Tremoli fahren rasch hintereinander hoch und wirken wie der Schmerz beim Einstich. Als formstrukturierende Pflöcke kehren sie nicht minder überraschend wieder. Irgendwann taucht in dem zwischen schnell und langsam changierenden Satz die Melancholie eines schönen Liedes auf, um alsbald symphonischen Gesten Platz zu machen. Eine höchst plastische Wiedergabe.
Lohnt es, alles auszugraben? Die Musikgeschichte ist grausam, voran die Konzertgeschichte. Dieselbe hat unerbittlich selektiert. Teils fuhr sie richtig damit. Nur die wirklich Besten - von Bach über die Wiener Klassiker bis Mahler, Wagner, Bruckner - inkorporierte sie, und der Betrieb setzte sie immer wieder ins Licht. Bis zum Überdruss. Teils begrub sie, was daneben und dahinter noch lag und gleichwohl von hohem Range war. Schütz und Monteverdi, vor Jahrzehnten für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt, sind Beispiele hierfür. Inzwischen ist fast eine Industrie daraus geworden. Neben dem Seriösen kommt auch haufenweise »Abfall« in den Markt und wird als »sensationelle Entdeckung« verkauft.
Adolf Buschs Quintett für Altsaxofon und Streichquartett op. 34 bedarf solcher falschen Preisungen nicht. Es ist einfach ein gut gebautes, gut klingendes Stück. Es schlief bisher, wie das Märchenkind, das mit dem Liedchen »Schlaf, Kindchen, schlaf« einschlummerte, damit nach langer Zeit erst der Prinz kommen musste, es wieder zu erwecken. Der Prinz, wer ist es hier anders, als das Vogler Quartett mit dem Solisten Christoph Engel? Sie verhalfen dem vergessenen Werk endlich wieder zu seinem Recht.
Die Besetzung des Busch-Werkes ist sie so merkwürdig und das der Rag-Music entsprungene Soloinstrument so abwegig für Quartetthochkultur, dass keines der renommierten Ensembles diese Partitur bisher angerührt hat. Doch die Verschiedenheiten fügten sich während der Aufführung erstaunlich stimmig zur Einheit. Aldolf Busch, geboren 1891, Geiger, Ensemblegründer und -spieler, Komponist und Dirigent, entstammt einer Musikerdynastie. Fritz Busch, als Dirigent der Sächsischen Staatskapelle 1933 von den Nazis seines Amtes enthoben, von Göring eine Zeit lang protegiert, schließlich Exilant, ist der berühmteste seiner drei Brüder, die alle Musiker wurden und teils gemeinsam musizierten. Adolf unterrichtete um 1930 Yehudi Menuhin. Mutiger als sein Bruder Fritz, sagte er als Zeuge der Boykotte jüdischer Geschäfte: »Hitler, Goebbels und Göring gehören öffentlich gehängt.« Adolf, unglücklicherweise Namensvetter des größten unter den deutschen Verbrechern, komponierte nur nebenher. Die Ausbeute: 70 Werke mit Opuszahl aller ernsten Gattungen. Daneben richtete er Stücke ein und kreierte eigens Kadenzen für Konzertwerke Mozarts, Beethovens oder Viottis. Busch lernte noch den großen Max Reger kennen.
Sein dreisätziges Quintett entstand 1925, in Tagen, als der Jazz aus Übersee in Deutschland, ja ganz Europa, bis nach Kiew, Leningrad, Moskau, die Massen ergriff. In Kneipen wie Palästen wurden Shimmy, Foxtrott, Swing, Dixieland, Charleston getanzt. Schwarze spielten in den Bands und Bigbands die Hauptstimmen, Plattenaufnahmen quäkten aus den Lautsprechern. Ernst Kreneks Jazzoper »Jonny spielt auf« kam 1927 auf Dutzende Bühnen und wurde wie die wenig später am Berliner Schiffbauerdamm uraufgeführte jazzige »Dreigroschenoper« von Brecht und Weill ein Welterfolg. Auch diverse damalige Kammermusik hantierte mit Jazz-Idiomen: Eisler, Hindemith, Weill, Butting, Satie, Milhaud, Ives ließen sich da manches einfallen.
Das Merkwürdige: Adolf Busch umschifft die Jazzgenese des Saxofons, indem er im ersten Satz die Altstimme in ihrer nasalen Färbung häufig als fünfte Stimme dem freitonalen Satzgefüge eingemeindet. Soloausflüge sind selten. Anders der zweite Satz, ein lachendes Scherzo, das zu blasphonischen Laufwerken einlädt und die Synkope als das nimmt, wozu sie taugt, nämlich dem Vierviertelrhythmus Vitalität zu verleihen. Im Schluss-Satz schlagen nicht etwa die Wogen, sondern formale Bruchstücke fügen sich zu einer merkwürdig holprigen Form. Das erwähnte Lied »Schlaf, Kindchen, schlaf« als Thema bildet den Kitt. Es windet sich durch die Trümmer und endet in Trübsal.
Adolf Buschs Quintett hat die spielerische Qualität eines Meisterstücks, und auf dieser Höhe brachten es die fünf Spieler freudig vors Publikum.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1067117.lohnt-es-alles-auszugraben.html