Die intime Bilanz eines Dichterlebens

»Unveröffentlichte Schreibhefte« von Marina Zwetajewa

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 3 Min.

Die siebenbändige, bisher vollständigste Ausgabe der Werke Marina Zwetajewas (1892 - 1941), die Mitte der 1990er Jahre in Moskau herauskam, wurde 1997 durch einen umfangreichen Band komplettiert, dessen Titel »Unveröffentlichte Schreibhefte« aufhorchen ließ. Jetzt hat der Schweizer Slawist Felix Philipp Ingold diese ungewöhnliche Publikation, die sich von den bisher bekannten Gedichten und Poemen, autobiografischen und memoirenhaften Prosawerken, Theaterstücken und Briefsammlungen Zwetajewas fundamental unterscheidet, mit Bravour übersetzt und bei Suhrkamp herausgebracht.

Die »Unveröffentlichten Schreibhefte« sind keine leichte Lektüre. Sie setzen voraus, dass der Leser mit den Grundzügen von Zwetajewas Lebensweg vertraut ist. Die Autorin, die sich seit 1910 eine eigenständige Position zwischen Symbolismus und Akmeismus erarbeitet hatte, verließ 1922 Sowjetrussland und fand in Prag ihren Mann Sergej Efron wieder, der gegen die Bolschewiki gekämpft hatte. 1925 übersiedelte sie mit Efron und den Kindern Ariadna (»Alja«) und dem gerade geborenen Georgi (»Murr«) nach Paris. Nach Ariadna und Efron kehrten Marina und »Murr« Mitte Juni 1939 in die Sowjetunion zurück. Ariadna wurde ins Lager gesteckt, Efron 1941 in der Lubjanka hingerichtet. Marina, bei Kriegsausbruch nach Tatarstan evakuiert, nahm sich am 31. August 1941 in Jelabuga das Leben.

Die vier »Schreibhefte« entstanden, als Marina durch Efron zur Rückkehr in die UdSSR gedrängt wurde, die ersten beiden 1932/33, die nächsten 1938/39. Die Hefte enthielten streng persönliche Texte - Auszüge aus Tagebüchern, Briefen, abgeschlossenen und geplanten künstlerischen Werken, Lektüreeindrücke, spontane Einfälle und Kommentare zum eigenen Schaffen. So entstand eine intime Bilanz des Dichterlebens, ein kompiliertes »Ersatzarchiv«, von dem sie annahm, dass die sowjetischen Kontrollorgane es bei der Rückkehr würden passieren lassen.

Der zweifache Anlauf zu den »Schreibheften« hat dazu beigetragen, dass die Hefte in ihrer Struktur unterschiedlich sind und die chronologische Abfolge mehrfach durchbrochen wird. Heft 1 enthält Werkentwürfe und Notate zwischen 1921 und 1932, Heft 2 Texte von 1923 bis 1933. Heft 3 füllen Eintragungen aus den Jahren 1922 bis 1932, Heft 4 Texte aus der Zeit von 1926 bis 1939.

Generell indes gilt die Feststellung der Autorin, alle Namen, die in den Heften vorkommen, seien »durch ihr Leben gegangen«. Gemeint sind Boris Pasternak und Rainer Maria Rilke, Alexander Blok und Andrej Bely, Ilja Ehrenburg und Rudolf Steiner, Michail Kusmin und Ossip Mandelstam, Sofija Parnok (mit der Marina während des Ersten Weltkriegs eine Liebesbeziehung verband) und Konstantin Rodsewitsch (mit dem Marina 1923 eine leidenschaftliche Affäre hatte).

Thematisch kreisen die Gedanken Zwetajewas vornehmlich um Liebe und Freundschaft (»Liebe ist Lust auf den Verlust seiner selbst im andern. Freundschaft - Gewinn seiner selbst im andern.«), die subtile Seele der Frau und das schwierige Handwerk des Dichters (Gedichte »sind Geheimschrift«). Widerhall findet auch die familiäre Situation, so die »zu frühe Ehe« mit dem »zu jungen Mann«, das spannungsreiche »geheime Leben«, die »Verliebtheit in jemanden bis zum gänzlichen Verlust von Sehen und Hören« sowie die oft altklugen Fragen und Argumente des kleinen »Murr«. In verschlüsselter Form sind Aussagen über die Verserzählung »Perekop« und das »Poem über die Zarenfamilie« zu erkennen, in denen Zwetajewa sich im Exil kritisch mit Revolution und Bürgerkrieg auseinandersetzte. Die Erfahrungen mit dem Leben in der Fremde spiegeln sich häufig in sarkastischen Kommentaren: »Mit der russischen Emigration steh ich schlecht«, »Hier (im Exil) bin ich - unbrauchbar, dort (in Russland) bin ich undenkbar«. Und: »Eine Leserschaft gibt es in der Emigration für mich nicht.«

Die deutsche Ausgabe der »Unveröffentlichten Schreibhefte« ist hervorragend ausgestattet - mit Abbildungen, einem Epilog, der die beiden letzten Lebensjahre der Zwetajewa beleuchtet, Anmerkungen und einem Nachwort des Herausgebers, einer Chronik zu Leben und Werk der Autorin sowie einer Auswahlbibliographie.

Marina Zwetajewa: Unsre Zeit ist die Kürze. Unveröffentlichte Schreibhefte. Herausgegeben und aus dem Russischen und Französischen übersetzt von Felix Philipp Ingold. Suhrkamp, 319 S., geb., 28 €.

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