Minimalismus in Russland
Wsewolod Nekrassow: Seine Gedichte in einer zweisprachigen Ausgabe
Wsewolod Nekrassow (1934 - 2009) nimmt eine einzigartige Stellung unter den russischen Lyrikern des 20. Jahrhunderts ein. Sein Minimalismus wurzelt in der Epigrammatik Puschkins und der absurden Poesie der Oberiuten um Daniil Charms. Als Dichter des Untergrunds, der sich vornahm, einen unerbittlichen »Kampf gegen die totalitäre Staatsmacht und ihre Handlanger« zu führen, stand er in den 1960er Jahren Künstlern wie Jewgeni Kropiwnizki, Oskar Rabin, Jan Satunowski, Genrich Sapgir und Igor Cholin nahe, die in der Barackensiedlung Lianosowo am Rande Moskaus mit privaten Dichterlesungen und Wohnungsausstellungen Keimformen einer Gegenkultur zur Sowjetkunst entwickelten. Ende der 1970er beteiligte er sich an den »Kollektiven Aktionen« der Moskauer Konzeptualisten und setzte sich für die »Sozart« Erik Bulatows ein. Bis 1989 konnten seine Texte nur im Samisdat und im Tamisdat (im Selbstverlag und im Ausland) erscheinen.
Auf Deutsch kamen einzelne Pu-blikationen Nekrassows in Zeitschriften wie »Schreibheft«, »Akzente« und »Lettre International« sowie in den Sammlungen »Freiheit ist Freiheit« (1975), »Kulturpalast« (1984), »Lianosowo« (1992), »Präprintium« (1998) und »Dojče Buch« (2002) heraus. Der Gedichtband »Ich lebe ich sehe« fasst einen größeren Teil des bisher ins Deutsche übertragenen Œuvres von Nekrassow zusammen.
Mit der Entscheidung für die Darstellungsformen des Minimalismus und der Konkreten Poesie distanziert sich Nekrassow deutlich von der vorherrschenden Dichtung seiner Zeit, nicht nur vom pompösen sozialistischen Realismus, sondern auch von der populären »Estradenlyrik« der Tauwetterzeit, etwa den Werken Jewgeni Jewtuschenkos und Andrej Wosnessenskis. Gegen Wosnessenski, der das Gedicht »Goya« in dem Band »Antiwelten« mit dem selbstbewussten »Ich - Goya!« beginnt, polemisiert er mit den Worten:
Du bist nicht Goya
Du
Bist anders
Nekrassows Schaffen steht ganz unter dem Zeichen der Konkreten Poesie, die Mitte der 1950er Jahre von dem bolivianisch-schweizerischen Schriftsteller Eugen Gomringer begründet wurde. Nach Gomringer nutzt die Konkrete Poesie die Sprache nicht zur Beschreibung von Sachverhalten, Gedanken oder Stimmungen, sondern macht diese selbst zum Zweck und Gegenstand des Gedichts. Damit werden die Wörter nicht länger als Bedeutungsträger, sondern als visuelle und phonetische Gestaltungselemente eingesetzt.
Ein Gedicht für Erik Bulatow lautet:
ich kann sie schon fühlen
Riesenwolke
und obwohl
ich nicht will
und nicht suche
ich lebe ich sehe
Nekrassow betont, dass er »auf eigenen Wegen und keinesfalls in der Nachahmung der Deutschen« zum Konkreten und Visuellen gefunden habe. Seine Texte entstünden »aus dem, was hinter der Rede ist«, auch aus dem Schweigen und der Pause. Sie seien Texte für das Auge und das Ohr, erzeugten durch das Prinzip der Kontrastierung und der mehrfachen Wiederholung von Wörtern einen »Klang-Geschmack«. Sowohl der einzelne Text als auch die Gruppierung von Gedichten blieben prinzipiell unabgeschlossen und vorläufig. Dichtung sei somit ein kurzes, fetzenhaftes Erfassen des Ereignisses der Rede, des Moments des Gerade-Bewusstwerdens, des Entstehens einer Äußerung aus dem Strom innerer Rede.
Auf dieser Grundlage entwickelt Nekrassow auf kleinstem Raum, mit geringstem lexikalischen Aufwand eine Diktion des Nicht-zu-Ende-Sprechens. Sein »Gespräch mit den Dichtern Jewtuschenko, Wosnessenski, Roshdestwenski und einer Dichterin« lautet:
Entschuldigen Sie
Wenn ich Sie
Unterbreche
Entschuldigen Sie
Dass ich Sie
Nicht liebe
Das war alles
Das ganze Gespräch
Neben Nekrassow sind es vor allem der Dichter Lew Rubinstein (»Immer weiter und weiter«, Münster 2001) und Ilja Kabakow, die Kunst des Minimalismus in Russland zur Perfektion gebracht haben.
Wsewolod Nekrassow: Ich lebe ich sehe. Gedichte (russisch-deutsch). Ausgewählt, aus dem Russischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Günter Hirt und Sascha Wonders. Vorwort von Eugen Gomringer. Verlag Helmut Lang. 354 S., br., 24 €.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.