Der Mensch, schief sitzende Krone der Schöpfung

Friedrich Dieckmanns Essays »Weltverwunderung«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Damit, die Dinge nicht selbstverständlich zu nehmen, beginnt Denken. Ist nicht alles irgendwie verworren und unergründlich? Beides steckt - laut Kluges Etymologischem Wörterbuch - in der Verwunderung (deren Bedeutungskern das Wunder ist). Ein imperativer Vorsatz folgt hier allzu leicht auf dem Fuße: In dieses Chaos werde man schon Ordnung bringen!

Das Wunder aber bleibt beharrlich der blinde Fleck auf der hochglanzpolierten Oberfläche ausrechenbaren Geschehens: ein Hort der Utopie. Denn auch das Gegenteil ist möglich: Der Einzelne mag angesichts der Merkwürdigkeiten dieser Welt erstaunen, so sehr, dass eine sich für selbstverständlich haltende Ordnung plötzlich verworren und unergründlich wirkt. Da erscheint Ordnung dann nur noch als schlecht sitzende Maske des Chaos. Sich wundern also befördert beides zugleich, jedoch beides nicht vorschnell: die Ordnung ebenso wie das subversive Chaos. Das Paradox: Der erkennen wollende Mensch baut etwas auf, das er gleichzeitig wieder abreißt. Ein melancholisch machendes Unternehmen!

Friedrich Dieckmann hat in seinem ebenso schmalen wie gewichtigen Band »Weltverwunderung« über »Hauptwörter« nachgedacht, das sind für ihn Schlüsselwörter der Welteröffnung, die man sich jedoch nicht als vorgefertigte Werkzeuge vorstellen sollte, sondern als erkenntnisfördernde Metaphern. In ganzem Maße treten sie erst dann vor Augen, wenn man in ihnen das Eigene und das Welthafte auf besondere Weise zusammenführt.

Diese Doppelbewegung zieht sich durch Dieckmanns Texte, die Essays im besten Sinne sind. Der Mensch als ein Stück Natur, das sich erkennt, tritt erkennend aus ihr heraus - nicht ganz, aber ein Stück weit. Das ist seine zweite Natur: die Kultur. In diesem Zugleich bleibt er ebenso gefangen wie frei. Davon kann man dann in so überschriebenen Texten lesen: »Mensch und Tier«, »Heimat«, »Ich bin ein Fremdling überall«, »Glaube und Wahn«, »Spielarten des Echten«. Diese und weitere Texte sind Versuche, Antworten zu geben, die in Fragen gründen und wieder in sie münden. Ein Buch für Leser, die das schwer Greifbare fasziniert, die sich nicht mit griffigen Schlagworten begnügen.

Wahrheit, so weiß Dieckmann, wohnt nur in mehrräumigen Worten. Da ist nicht weniger gefordert als jener Ernst im Spiel, der uns zu Menschen macht, die auf eine humane Weise miteinander umzugehen verstehen. Der Schiller-Biograph Dieckmann verweist auf dessen »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen«, in denen es wunderbarerweise heißt, »der Mensch spielt nur da, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«.

Wer dieses Buch mit der meditativen Aufmerksamkeit liest, die es vom Leser einfordert wie einen selbstverständlichen Tribut, der reist mit dem Autor wie auf jenem Schiff, auf das Nietzsche die Philosophen setzen wollte, über ein Meer der Sprache. Erst aus der Verflüssigung eines falsch Verfestigten wächst das freie Spiel der Formen, aus dem Neues wird.

»Weltverwunderung« wird zum Lob der verschlungenen Um- und Nebenwege, von denen der Wanderer reicher an Erfahrungen heimkehrt, als wenn er immer nur die Hauptstraße geradeaus ginge. Im Essay »Heimat« ist es der Weg über Bloch und Schubert (»Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus«) hin zu einem bemerkenswerten Schluss, der das Vorhergehende mit ins Urteil hineinnimmt über die »Mobilität und Flexibilität«, die man von abhängig Beschäftigten mitten im »Weltinnenraum des Kapitals« nicht aufhört, so permanent wie penetrant zu fordern: »Er soll überall zu Hause sein, indem er es nirgendwo ist. Aber der Mensch ist nicht dafür geschaffen. Es wird Widerstände geben, und es gibt sie nicht erst seit heute; aus dem 20. Jahrhundert wissen wir, dass Unbehaustheit Gewalt erzeugt und Gewalt Heimatlosigkeit. Ist der neue fehlerhafte Kreislauf noch zu stoppen?«

Zu »Auf der Suche nach der Lebenskunst«, die für den Autor nicht ganz den Rang eines Hauptworts besitzt, lesen wir: »Lebenskunst ist das, was immer dann fehlt, wenn man es am dringendsten braucht.« Da helfen all die Bücher von Seneca und Plutarch, die man um sich stapelt, wenig: Ratgeber sind etwas für Konsumenten, hilfreiche Fehler nimmt einem niemand ab. Das ist noch nicht Kunst, aber ihr wertvollster Dünger.

Der Essay, der mich am stärksten in dieser schönen - weil unruhevoll um Ausdruck von etwas noch Unbekanntem ringenden - Sammlung beeindruckt, heißt »Figurationen des Sinnens. Blake - Dürer - Rembrandt«. William Blakes Radierung »Newton« von 1795 zeigt den Physiker, wie später Rodin seinen »Denker« zeigt: nackt seinen muskulösen Körper nach vorn über einen am Boden liegenden Zirkel beugend. So viel Physis angesichts eines so unscheinbaren Messinstruments wirkt unangemessen - und vielleicht war gerade das der von Blake gewollte Effekt auf den Betrachter. Da treffen verschiedene Bedeutungsebenen aufeinander. Newton, der seinen offenbar starken Körper nur zum Rechnen gebraucht, ein bloßer Kopfmensch? Ob es stimmt, weiß man nicht. »Blakes Newton grübelt nicht, er misst, er konstruiert - aber was? Eine neue Welt?«

Goethe wird mit seiner Farbenlehre vehement gegen Newton revoltieren (dabei meinen beide Verschiedenes, haben auf ihre Weise recht - aber sie verfehlen sich dramatisch). Goethe hat eben auch recht, wenn er sagt, Farben seien nicht bloße quantitativ auf Lichtspektren reduzierbare Rechengrößen, sie seien auch Qualitäten, also etwas, das durch Synthese entstünde. Zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen der Welt, mit Folgen bis heute. Dieckmann treffend über den nackten Newton: »Aber vielleicht bezeichnet die Nacktheit des Jünglings auch nur dessen metaphysische Blöße.«

Und weiter geht es mit einem Dürer-Stich »Melencolia I«, der in Blakes Londoner Werkstatt hing. So schlägt der Autor hier Verstehensbögen, die keineswegs bloß assoziativ sind, sondern eigene Gedanken entwickeln, wohl wissend, dass solch einer nie im luftleeren Raum gedeiht, sondern einer anregenden Gesellschaft bedarf. Rembrandt schließlich, der genau wusste, dass es des Dunkels bedarf, damit das Licht seine Wirkung zeigt, schafft mit »Hieronymus im dunklen Zimmer« etwas, das man fast eine bloße Behauptung von Bild nennen möchte. Man sieht erst einmal - nichts!

Man muss sich diesen Hieronymus denken, wie er da im Dunkeln sitzt. Ja, und wie genau sitzt er? Das entzieht sich unseren Blicken, bis auf einen schwach konturierten Schatten. Ist das bloße Malerfrechheit? Nein, es scheint sinnvoll, weil ein sinnlich erfahrbares Denk-Bild schaffend, das uns, wie Dieckmann sagt, zu etwas hinführt, für das erst viel später Rainer Maria Rilke ein Namen fand: »Weltinnenraum«. So heißt der fernste Ort tief in uns, in dem Chaos und Ordnung (noch, oder schon wieder?) eins scheinen. Der Autor schreibt, dies sei ein anderer Ort als der, welchen die Wissenschaft uns eröffne - und erwachse doch aus derselben Sehnsucht wie deren rationales Forschen: »Der Mensch kommt da nicht heraus, es kommt einzig auf ihn an, die schief sitzende Krone der Schöpfung.«

Friedrich Dieckmann: Weltverwunderung. Nachdenken über Hauptwörter. Quintus-Verlag, 184 S., geb., 18 €.

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