Das Geschenk Gelassenheit

Albert Wendt: Zum Siebzigsten ein neues Buch

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

So alltäglich real wie wundersam: »Winterstürme hatten morsche Zweige, fauliges Laub und Hüllen toter Insekten zusammengeweht. Auf diesen Resten des alten Jahres hatte nun der Frühling ein Moosbeet angelegt.« Das wird von einem älteren, dicken Mann und einem Mädchen bestaunt. »Wir wollen diesen grünen Hügel Henrikes Dachgarten nennen«, sagt Henne, der mal Dachdecker war und einen leichten »Dachschaden« bekennt. »Und wir wollen Blumensamen in das Moos streuen«, so das Mädchen.

Damit beginnt das neue Buch von Albert Wendt, und wir ahnen schon: Auf dem flachen Dach des Hauses »Krumme Gasse Nummer sieben« wird nach und nach ein richtiger Garten entstehen. Am nächsten Morgen schon - ein Rätsel, das sich noch aufklären wird - werden dort zwei Birken wachsen. Wo kommen sie her? Henne weiß keine Antwort. Da hilft Henrike ihm aus der Klemme: »Es hat sich so ergeben.«

Diesen Satz kann man überlesen, aber man sollte ihn behalten. Die Aussage ist wichtig. Manchmal meinen wir, alles sei unserer Tatkraft zu verdanken, und strengen uns an. Nichts gegen derlei Bemühungen, aber die größte Freude ist es doch, wenn sich etwas wie von alleine fügt. Schriftsteller kennen das. Wenn sie Glück haben, fällt ihnen zu ihrem Text im Moment etwas ein, was sie gar nicht geplant haben. Und diese Wendung erweist sich dann als besonders gut. Aber es ist mehr als das: eine Lebenshaltung. Nichts Behäbiges, eher ein Balancieren zwischen Tun und Vertrauen. Was im »richtigen Leben« freilich auch schiefgehen kann; Autoren haben die Macht, es gelingen zu lassen. Vielleicht haben die Texte von Albert Wendt auch darin ihre Faszination.

Da er an diesem Dienstag 70 wird, ist daran zu erinnern, dass er seinen Schaffensweg in der DDR mit Hörspielen und Theaterstücken begann, die auch international erfolgreich wurden. Wenn er heute - beglückend immer wieder - vor jungem Publikum seine Kinderbücher vorstellt, merkt man die Begabung des Theatermachers. »Der Vogelkopp«. »Prinzessin Zartfuß und die sieben Elefanten«, »Padulidu und Lorelei«, »Betti Kettenhemd«, »Adrian und Lavendel«, »Prinzessin Wachtelei mit dem goldenen Herzen« sind ja auch schon als Dramatisierungen auf die Bühne gekommen; manche waren dort, bevor sie zu Büchern wurden.

In mehreren Verlagen hat Albert Wendt veröffentlicht, seit 2007 hat er im Verlag Jungbrunnen Wien eine Heimat gefunden, wo man voller Begeisterung über ihn spricht. Das braucht ein Autor doch, der die meiste Zeit allein mit seinen Texten ist: Verständnis, ja Liebe für sein ganz persönliches Werk. Zuwendung, Vertrauen - die Gestalten, die uns Albert Wendt vor Augen führt, verfügen darüber aus sich heraus.

Wenn etwas Seltsames passiert, wenn etwa in »Adrian und Lavendel« eine kleine zartgeflügelte Dampfwalze im Garten landet, erholt sich der Dichter Adrian schnell von seiner Verwunderung. Er freundet sich mit der neuen Gefährtin an, auch wenn sie in seinem Arbeitszimmer ein »Königreich Balaleika« errichtet, das für andere wie ein Müllberg aussieht. (Vielleicht brauche ich ja für das Chaos auf meinem Schreibtisch nur einen poetischen Namen?)

Auch ist immer wieder Mut zu beweisen. »Tapferzart« ist Tine Pelerine aus dem Buch »Das tanzende Häuschen«, die Tag für Tag auf dem Bahnsteig steht und vergeblich auf die Rückkehr ihrer Mutter wartet. Eines Tages aber hört sie mit dem Weinen auf und beginnt, anderen zu helfen, die auf uns ziemlich verrückt wirken müssen. Aber solche Unangepassten haben es gut bei Albert Wendt. Wer Vögel unter der Mütze hat wie »Vogelkopp«, kann gerade deshalb die Königin erringen, denn auch sie hat etwas unter der Krone. Nennen wir’s einfach Phantasie.

Das Gegenteil davon: militante Nüchternheit, Kontrollwahn, totale Anpassung an Verhältnisse, in denen Menschen bloß effektiv zu funktionieren haben. Bei einem Ausflug in die Stadt beobachten Adrian und Lavendel die Leute bei einem seltsamen Spiel: »Laufen, laufen, laufen! Husch in ein Haus! Kaufen, kaufen, kaufen! Und husch wieder raus!« Da ahnt man schon, dass das Haus des Schriftstellers in Kleinpößna bei Leipzig nicht picobello aufgeräumt ist und dass er lieber in seinem Garten sitzt, als sich in den Einkaufstrubel zu stürzen. Und noch mehr von ihm selbst mag in seinen Werken sein; solche Geheimnisse geben den Sätzen Leben.

Aber nun zurück zu »Henrikes Dachgarten«, wo inzwischen alles Mögliche wächst, wo zwei Kaminkehrer eine transportable Küche anschleppen und bald mit Tee aus frischen Brennnesseln bewirtet werden. (Die werden hier abgeschnitten, nicht ausgerissen, das ist so selbstverständlich, dass es keiner Erwähnung bedarf.) Auch eine Ente hat sich eingefunden, aber Ilse ist ein flatterhaftes Wesen. Ihre Eier wärmt Henrike auf ihrem Bauch. Für die Kücken wird dann ein Planschbecken aufgestellt, Henne übt mit ihnen Gründeln.

Eine blühende und zwitschernde Wildnis, die natürlich nicht jedem gefällt. Frau Hux ist nun mal so, dass sie »alles kontrollieren, überall nach dem Rechten sehen« will. Mit Besen und Heckenschere steigt sie aufs Dach. »Schimpf und Schande, Wildnis nagt am Abendlande! Schreck und Graus! Ein Dschungel schluckt das Haus! Verflixt, verflext, verfluxt! Jetzt wird hier gehuxt!« Da tritt ihr ein starker Kerl entgegen, und die Lehrerin Schöne-Mauze, der sie einen Petzbrief schreibt, sonnt sich lieber in Henrikes Dachgarten.

Auch ein Dachwanderer tritt auf, ein Knurrvieh, von dem wir am Schluss Seltsames erfahren, Kevin mit dem Kissen und seinem Cello, der Stofftierarzt Old Botte und zwei Lackschuhbrüder, die freundlicher sind, als man dachte. Man erlebt, wie Hilfe in Not nahe ist (möge es doch immer so sein). »Ach, Henne, du bist ein Träumer«, meint Henrike. »Aber Wunder gibt es«, bekommt sie zur Antwort.

Zum Siebzigsten ein Geschenk auch an die Leser: Gelassenheit. Etwas Bestärkendes inmitten aller Aufregungen und Ängste, der Hast ringsum und der gleichzeitigen Erschöpfung. »So bemüht gebt ihr dem Segen keine Chance«, sagt Albert Wendt in seiner Aphorismensammlung »Pfiffe und Geigen«, die noch auf Veröffentlichung wartet.

Albert Wendt: Henrikes Dachgarten. Das Wunder auf der Krummen Sieben. Illustrationen von Linda Wolfsgruber. Verlag Jungbrunnen, 88 S., geb., 14 €.

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