Als das Internet noch jung war, war die Hoffnung unter den Digitalpionieren groß, dass durch die Technologie die Welt besser und gerechter werden würde. Heute, zwei, drei Jahrzehnte später, meint der Stargast der aktuellen Ausgabe der Digitalkonferenz re:publica, die Whistleblowerin Chelsea Manning: »Wir Software-Entwickler sind Komplizen beim Missbrauch unserer Produkte.« Nicht nur der Glaube an die positiven Potenziale der Technik ist verflogen, das macht das diesjährige Treffen der Programmierer aus aller Welt in Berlin deutlich. Manning traut es den Tech-Unternehmen, deren Auftraggebern und deren Kunden, ja offenbar selbst weiten Teilen der Gesellschaft nicht mehr zu, die Hoheit über den Einsatz der Technologien zurückzugewinnen. Daher nimmt sie die Entwickler in die Pflicht. Die sollen nun - nach ihrer langsamen Deformation von Helden zu Handlangern der Überwachungs- und Normierungsindustrien - zu Widerstandskämpfern werden.
Man konnte die Verzweiflung in Mannings Vortrag mit Händen greifen. Und man sollte sie, bevor man ihre Schlussfolgerung leichthin belächelt, ernst nehmen. Denn bevor sie als Bradley Edward Manning der Enthüllungsplattform Wikileaks neben Tausenden anderen Dokumenten auch ein Video über den Beschuss von irakischen Zivilisten durch US-Militärs zuspielte, arbeitete sie als Datenanalystin für die US Army. Und sie schilderte jetzt in Berlin ihr Erschrecken darüber, wie »schlechte, weil unvollständige Datensätze und darauf basierende Algorithmen über Leben und Tod entscheiden konnten«. Über Leben und Tod von US-Soldaten, die vielleicht in eine Falle tappten, die wegen falscher Verknüpfungen nicht sichtbar war. Aber auch über Leben und Tod von Zivilisten, die, ohne jegliche kriminelle Handlung begangen zu haben, sich in Antiterror-Suchrastern verfangen konnten und dann Ziel einer Razzia, einer Verhaftung oder auch eines tödlichen Drohnenangriffs wurden. Manning schilderte auch, wie sie nach ihrer Haftentlassung selbst Opfer von unvollständigen Datensätzen wurde. Sie hatte keinen Ausweis auf ihren neuen Namen, hatte wegen der jahrelangen Haft keine Datenspur als Konsumentin - und deshalb wurden ihr existenziell wichtige Dinge wie eine Kontoeröffnung oder das Anmieten einer Wohnung verwehrt.
Auf anderen Panels der re:publica ging es noch düsterer zu. Denn da waren es nicht die unvollständigen Datensätze oder die unausgereiften Algorithmen, die den Weltuntergang bringen. Nein, noch schlimmer wird es, wenn die Maschinen präzise operieren. Dipayan Ghosh, einst Digitalberater von US-Präsident Barack Obama und zuvor bei Facebook angestellt, zeigte in seinem Beitrag, wie die Verbreiter von Falschinformationen vollkommen routiniert Instrumente des Internetmarketings anwenden, die von Giganten wie Facebook und Google entwickelt wurden. Die Tools ermöglichen es, Zielgruppen zu kreieren, deren Subjekte als besonders anfällig für bestimmte Botschaften identifiziert wurden. Ghosh verfiel dabei angenehmerweise nicht in billiges Russen-Bashing, das sich nach den Manipulationen während des US-Wahlkampfes als besonders beliebt erweist. In seiner zuvor vom Think-Tank »New America« veröffentlichten Studie »Digital Deceit« weist er darauf hin, dass Desinformationskampagnen und die dafür benötigten Technologien bereits untrennbar mit der Infrastruktur des Datenraums verwoben sind und die bei weitem größte Menge verfälschter Information in den USA von einheimischen Akteuren produziert wird.
Noch ein wenig deutlicher wurde der ehemalige Datenanalyst Christian Bennefeld. Er zeigte anschaulich, wie Datensammeldienste nicht nur Daten sammeln, sondern diese auch untereinander austauschen, um die individuellen Profile feiner zu justieren. Vor allem räumte Bennefeld mit der Illusion auf, dass man durch das Anonymisieren der eigenen IP-Adresse vor Ausspähung geschützt ist.