Uns ist in Ivančice zugefallen: jene unerklärliche Faszination, die vom jüdischen Friedhof ausgeht und neugierig macht auf das untergegangene Leben, das er - endgültig abschließend wie Deckel einer Gruft - archiviert.« Das schreibt die österreichische Autorin Ludwiga Reich zu Beginn des Buches über diesen einzigartigen, alten jüdischen Friedhof einer Kleinstadt in Südmähren. Diese Faszination überträgt sich schon beim ersten Blättern auf den Betrachter der vielen Abbildungen, noch mehr auf den Leser des informativen Bandes.
Das hat viele Gründe: Das Buch erschließt dem Leser zahlreiche Aspekte einer fast gänzlich untergegangenen, besser gesagt, ausgelöschten jüdischen Kulturtradition an diesem Ort und in dieser Region. Zum anderen ermöglicht das heute streng denkmalgeschützte »steinerne Archiv« von Ivančice, wie es die Autorin nennt, Einblicke in die jüdisch-europäische Geschichte weit über den Ort und die Region hinaus. Vor allem aber sind es ausgerechnet die Hunderte unterschiedlicher Grabsteine, stumme Zeugen, die zu sprechen scheinen und vom Leben und Sterben der Menschen und vom langen, friedlichen Zusammenleben von Juden und Nichtjuden hier in einer alten, einst blühenden Handelsstadt erzählen.
Der jüdische Friedhof von Ivančice ist der älteste Südmährens und der drittälteste von Tschechien. Ausgehend von dem großen, abgeschlossenen Areal des verwunschen scheinenden Friedhofsgeländes mit seinen »Sektionen« aus verschiedenen Perioden, widmet sich die Autorin zunächst der Stadtgeschichte des alten Eibenschitz oder Eybenschütz, heute Ivančice. Im 13. Jahrhundert zur »Königsstadt« erhoben, war es über Jahrhunderte ein wirtschaftliches und kulturelles Zentrum Mährens und hatte schon sehr früh einen großen Anteil jüdischer Bevölkerung. Nicht nur an den Grabsteinen, sondern auch an der Architektur der Stadt lässt sich heute noch (oder wieder) die Bedeutung des Ortes einst, besonders im 16. Jahrhundert, aber auch als Industriestadt des 19. Jahrhunderts ermessen. Ablesen lässt sich die enge Verbindung zu Niederösterreich, die Ereignisse um das Lager Ivančice und die endgültige Vernichtung jüdischen Lebens durch die große Deportation im Jahr 1942.
Ludwiga Reich nennt auch bedeutende Namen, die mit der Stadt verbunden sind und sich auf den Grabsteinen wiederfinden lassen, so beispielsweise der in Wien noch heute hochgeschätzte Name der Musikerfamilie Schallinger. Dass Friedrich Gulda eine Gedenktafel zwischen Friedhof und Synagoge erhalten hat, verdankt er seinen hier einst ansässigen Vorfahren. Breiten Raum nimmt im Buch die jüdische Begräbniskultur mit ihren Besonderheiten ein, die sich im 19. Jahrhundert der christlichen assimilierte.
Die Autorin betont die Vorliebe für bildhafte Symbole und zeigt an vielen, sehr schönen Beispielen dieses Friedhofs deren Bedeutung. Das sind sowohl religiöse als auch nicht-religiöse Zeichen, Tier- und Pflanzenabbildungen und Symbole, die an Namen, Eigenschaft und Berufe der Verstorbenen erinnern: Wasserkannen, Schalen, Löwen, Hirsche, Weintrauben, Kronen, Gesetzestafeln, Brunnen usw.
Eingeflossen sind auch Elemente der regionalen Volkskunst. Schließlich beschreibt die Autorin die einstige Zeremonien-Halle, in der sich heute ein Museum und ein Dokumentationszentrum befinden, und sie gibt Auskunft über die Restaurierungen und Anstrengungen der letzten Zeit um diesen Erinnerungsort, der wie ein ganzes »Buch des Lebens« erscheint.
Ludwiga Reich. Das steinerne Archiv von Ivančice. Zweisprachig: deutsch und tschechisch. Übersetzung aus dem Deutschen: Marco Nyvlt. Wieser Verlag, 236 S., zahlr. Abb., geb., 29,95 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1088090.stumme-zeugen-die-zu-sprechen-scheinen.html