nd-aktuell.de / 08.06.2018 / Politik / Seite 7

Schweden macht mobil

Auf Krieg gebürstet: Das skandinavische Land rüstet aus Furcht vor einer Invasion Russlands stetig auf

Bengt Arvidsson, Stockholm

Völlig unangekündigt hat Schwedens Oberbefehlshaber Micael Bydén sämtliche 22 000 Heimwehrsoldaten des Landes zu einer historischen Bereitschaftsübung einberufen. Sämtliche 40 Bataillone, laut Bydén »fast die Hälfte« der gesamten schwedischen »Kriegsorganisation«, sollen ausrücken, um wichtige Einrichtungen wie Behörden und Flugplätze zu verteidigen. Es ist die größte militärische Bereitschaftsübung des bündnisfreien Landes seit 1975. Sie startete am Dienstag um 16 Uhr und lief weit in den Nationalfeiertag am Mittwoch hinein.

Erst vor einer Woche verschickte zudem die Zivilschutzbehörde ein 20-seitiges Handbuch mit dem Titel »Wenn die Krise oder der Krieg kommt« an sämtliche Haushalte. In der zuletzt 1961 verschickten Broschüre wird den Bürgern im Detail geraten, Essens- und Trinkwasservorräte für den Ernstfall anzuschaffen und Vorkehrungen zu treffen, falls der Strom, die Wärmeversorgung oder die herkömmlichen Kommunikationssysteme ausfallen.

Beunruhigt müssten die Bürger wegen all dieser Maßnahmen nicht sein, so Bydén auf die entsprechende Frage in der abendlichen Hauptnachrichtensendung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens SVT. Es gehe nur darum, die »operative Einsatzkraft« zu verbessern, »ohne Angst«. Doch obwohl in Schweden seit 1809 kein Krieg mehr stattgefunden hat, haben zahlreiche Haushalte tatsächlich damit begonnen, Trinkwasser und Konserven zu bunkern.

Noch vor wenigen Jahren hatte ausgerechnet die traditionell dem Militär nahestehende Partei Moderaterna des damaligen Ministerpräsidenten Fredrik Reinfeldt einen seit den 90er-Jahren stattfindenden Abrüstungsprozess drastisch verstärkt. Schweden sollte sich grundsätzlich von der teuren Landesverteidigung hin zu einer schlanken mobilen Einsatztruppe verändern. Zahlreiche Stützpunkte wurden stillgelegt. Der damalige Oberbefehlshaber Sverker Göranson warnte 2013 öffentlich, dass sich Schweden bei einem Angriff höchstens eine Woche alleine verteidigen könne und forderte, zunächst erfolglos, einen Kürzungsstopp. Dann ließ das Militär zahlreiche Missstände an die Medien durchsickern. 2014 folgte die russische Krimannexion, die zum gänzlichen Umdenken führte. Schweden könne in einen Konflikt mit Russland hineingezogen werden, hieß es in einem staatlichen Bericht. Das sei unwahrscheinlich, aber Moskau sei »unberechenbar« geworden.

Ausgerechnet die seit 2014 regierende Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten und Grünen steht nun hinter der Kehrtwende, mit von Jahr zu Jahr steigenden Ausgaben für die Kriegsmaschinerie. In einem Regierungsbericht von 2017 wird dies erneut begründet: »Ein bewaffneter Angriff auf Schweden kann nicht ausgeschlossen werden.« Auch die Wehrpflicht wurde wieder eingeführt. Die entmilitarisierte Ostseeinsel Gotland erhält für viel Geld wieder einen schlagkräftigen Militärstützpunkt.

Was einst Pazifisten auf Schwedens Straßen gerufen hätte, führt heute kaum zu Streit. Selbst die Linkspartei will die Aufrüstung. Auch ist seit 2014 eine knappe Mehrheit im Volk für eine NATO-Mitgliedschaft, die im Angriffsfall Schutz bieten würde. Statt zwei der insgesamt vier bürgerlichen Parlamentsparteien sind inzwischen alle vier für den NATO-Beitritt. Offiziell sind die Sozialdemokraten noch dagegen, doch in der Partei gibt es immer mehr Befürworter. Die Regierung von Stefan Löfven verfolgt derzeit noch die größtmögliche partnerschaftliche Nähe zur NATO. Ein Umschwenken hin zur Vollmitgliedschaft gilt mittelfristig als realistische Möglichkeit. Eine Mehrheit im Parlament gäbe es dann.