Kritik an Polizeikessel in Chemnitz

Demosanitäter, LINKE-Politiker und Gegendemonstranten werfen Polizei rechtswidrigen Einsatz vor

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Samstagabend herrschte in Chemnitz eine bedrohliche Lage. Nach der Auflösung des rechtsradikalen Aufmarsches von AfD, Pegida und Pro Chemnitz zogen Nazis durch die Straßen und griffen Gegendemonstranten sowie Journalisten an. Die Polizei konnte viele Übergriffe nicht verhindern – möglicherweise auch, weil sie andere Prioritäten gesetzt hatte. Von etwa 18 bis 22 Uhr wurde am Johannisplatz eine Gruppe von rund 250 Antifaschisten eingekesselt. Demosanitäter, Gegendemonstranten und Politiker erheben nun schwere Vorwürfe gegen die Beamten.

Der Verlauf aus Sicht der Polizeipressemitteilung: Die Antifaschisten hatten am frühen Abend »offenbar« versucht, zur AfD-Versammlung zu kommen. Um die Gruppen zu trennen, bauten die Beamten dann wohl einen Kessel auf, vereinzelt sei es dabei zu »Rangeleien« gekommen. Aufgrund »strafrechtlicher Ermittlungen zum Verdacht des Landfriedensbruchs« nahm die Polizei anschließend die Personalien der meisten Anwesenden auf.

Offenbar verlief der Einsatz jedoch weitaus problematischer als beschrieben. Ehrenamtliche Demosanitäter aus Chemnitz werfen den Beamten vor, sie in ihrer Arbeit behindert zu haben. »Wir konnten in den Kessel hinein, durften diesen aber nicht wieder verlassen«, erklärt der Sanitäter Alex Benda gegenüber »nd«. »Polizisten hatten uns zu Versammlungsteilnehmern erklärt, dabei arbeiten wir neutral und halten uns aus Demonstrationsgeschehen heraus.« Nur um Verletzte zum Rettungsdienst zu begleiten, habe man sich kurzzeitig aus dem Kessel bewegen dürfen. »Das ist ärgerlich und auch unprofessionell. Wir haben die grundgesetzlich verankerte Verpflichtung zu helfen und es ist unangenehm, wenn man behindert wird«, sagt Benda. »Das betreffende Sanitäter-Team konnte an dem Abend keine weiteren Fälle an anderen Orten bearbeiten.«

Der Sanitäter erklärt, dass die Polizei weiterhin Daten der Patienten angefordert habe. »Das ist ein grober Verstoß gegen den Datenschutz. Würden wir bei so etwas kooperieren, könnten uns Patienten verklagen«, so Benda. Ein Patient, der schnellstmöglich ins Krankenhaus müsse, sei zudem nicht in der Lage, eine solche weitere Belastung durchzustehen. »Polizisten haben hier mit der Gesundheit der Demonstranten gespielt.«

Nach Angaben des Sanitäters habe es gegen 21 Uhr einen Angriff mit Pfefferspray auf den Polizeikessel gegeben, offenbar von zwei Nazis, die sich auf das Dach des nahegelegenen Restaurants Vapioano geschlichen hatten. »Der Angriff war eine besondere Qualität von Gewalt. Es handelte sich um keine Konfrontation von gewaltbereiten Demonstranten verschiedener Gruppen, sondern um einen Übergriff auf eine Menge, die zu dem Zeitpunkt unwissend war und sich nicht groß bewegen konnte«, sagt Benda. Auch Sanitäter seien dabei getroffen worden. »Angriffe sind immer schlimm, aber unsere Anwesenheit zu ignorieren oder unsere Verletzung in Kauf zu nehmen, ist besorgniserregend, da sich klar gesetzte Regeln auflösen«, so der Sanitäter. »Presse und Sanitäter stehen unter besonderem Schutz.« Andere anwesende Gegendemonstranten konnten den Angriff gegenüber »nd« nicht bestätigen. Das Portal »Belltower News« schreibt dagegen auch von einer Pfefferspray-Attacke.

Zeugen berichteten gegenüber »nd« von weiteren Zwischenfällen. So habe die Polizei auch unbeteiligte Personen in den Kessel geschickt. »Die Polizei hat einfache Passanten hinein geschubst, selbst eine Journalistin und die Sanitäter zählten plötzlich zur Demogruppe«, sagt die Leipziger Gegendemonstrantin Tanja Hirsch gegenüber »nd«. Die von dem Einsatz Betroffenen hätten auch für längere Zeit nicht auf Toilette gehen dürfen. »Wir Frauen durften erst nach einer Stunde aufs Klo, die Männer gar nicht«, sagt Hirsch. Mehrmals hätten Beamte zudem unnötig Gewalt angewendet. »Als wir alle des Landfriedensbruchs bezichtigt wurden, gab es einen Tumult, der von der Polizei sofort niedergeknüppelt wurde. Später stürmte die Polizei in den Kessel und zog willkürlich Leute aus der Menge.« Personen seien in den Kessel zurückgebracht worden, obwohl sie ihre Personalien freiwillig abgegeben hätten, einige der Eingekesselten seien minderjährig gewesen. Laut Hirsch hatte die Polizei gegen 22 Uhr die Maßnahme plötzlich beendet und alle Personen zum Hauptbahnhof eskortiert. Auf »nd«-Nachfragen zu den verschiedenen Vorwürfen gab die Chemnitzer Polizei bis Mittwochabend keine Antwort.

Die sächsische Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (LINKE) war beim Kessel vor Ort und übt ebenfalls scharfe Kritik. So habe ihr ein Polizeisprecher bereits gegen 18.30 Uhr versichert, dass die Antifaschisten den Kessel nach hinten wieder verlassen dürften – eine Aussage, die offensichtlich falsch war. Doch auch der generelle Einsatz sei problematisch verlaufen. »Mit der Umschließung am Johannisplatz wurde Menschen nicht nur das Recht auf legitimen Protest genommen, sie wurden auch kriminalisiert«, so die Politikerin gegenüber »nd«. »Wegen eines angeblichen Angriffs auf Polizeibeamte wurden mehr als 200 Menschen fast vier Stunden festgehalten und als tatverdächtig deklariert.« Dies sei nicht nur »unverhältnismäßig, sondern auch rechtswidrig«.

Auch die politische Implikation bereitet Nagel Sorgen. »Während Rassisten und Neonazis zeitgleich wieder ungestört marodieren konnten, wurden Linke gegängelt«, fügt die Politikerin hinzu. »Dass sich die sächsische Polizei verantwortlich für diese Maßnahme zeichnet, ist kein Zufall.« Die Landtagsabgeordnete hat zur Begründung und zum Verlauf des Kessels eine Kleine Anfrage an die Staatsregierung gestellt.

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