Vom »Platz der drei Kulturen« her hört man Stimmen. Tausende. Hunderttausende. Dann das Knacken eines Mikrofons. »Der Streikrat hat soeben beschlossen, die Versammlung aufzuheben. Bitte geht alle nach Hause. Lasst euch nicht provozieren.« Die Worte sind kaum verhallt, da fallen Schüsse.
So lässt sich eine Szene aus dem Spielfilm »Rojo amanecer« (Rotes Morgengrauen) von Jorge Fons in Worte fassen, der das Unfassbare vom 2. Oktober 1968 zweiundzwanzig Jahre später erstmals auf die Leinwand brachte. Bis heute fehlen Namen von »Verschwundenen« und »die Verantwortlichen für das Massaker bleiben weiterhin unbestraft«, klagte Claudia Ferri.
Zehn Tage vor der Eröffnung der Olympischen Spiele in Mexiko-Stadt holte Präsident Gustavo Díaz Ordaz, unterstützt vom Militär und den gefürchteten Granaderos, zum definitiven Schlag gegen die Studentenproteste aus. Für jedes Plakat, das sich gegen ihn richtete, ließ er 50 Menschen verhaften, berichtete Elena Poniatowska. Verschwörungstheorie wurden kolportiert, die Unruhen seien von kommunistischen Gruppen aus dem Ausland organisiert worden. Für den Schriftsteller Carlos Monsiváis war das ein Ausfluss des Kalten Krieges, der in Lateinamerika einen »beeindruckenden Erfolg« gehabt habe.
Trotzdem gelang es den jungen Leuten in kurzer Zeit bis zu einer halben Million Menschen in Mexiko-Stadt für ihre Proteste auf die Straße zu bringen. Die traditionell rivalisierenden Studierenden der Autonomen Universität UNAM und der Fachschulen hatten sich Anfang August zusammengetan. Anlass war das unverhältnismäßig brutale Eingreifen des Militärs Ende Juli in einer an sich banalen Auseinandersetzung zwischen Schülern. Die Studierenden konstituierten einen Nationalen Streikrat (CNH) und stellten sechs Forderungen an die Regierung, die in einem öffentlichen Dialog debattierten werden sollten, darunter die Freilassung der politischen Gefangenen, die Entlassung der Polizeichefs und die Auflösung des Corps der brutalen Granaderos. Erst danach sollte der Lehrbetrieb wieder aufgenommen werden.
Brigaden verteilten klandestin Flugblätter an die Bevölkerung, um über die staatlichen Repressalien aufzuklären. »Die Universität stand ihren Studierenden als große Beschützerin zur Seite. Viele von ihnen suchten in den Aulen Zuflucht, sie schliefen in den Gängen, um nicht eine Versammlung zu verpassen«, so Poniatowska. Immer wieder kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, es gab Tote und unzählige Verhaftungen. Dabei gab es, wie »Die Zeit« am 11. Oktober 1968 schrieb, »in Mexiko keine ›Studentenunruhen‹, sondern eine Unruhe, die von Polizei und Militär ausgelöst wurde. Die Studenten reagierten nur.« Ute Evers
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1100453.lasst-euch-nicht-provozieren.html