Ohne Vertrauen hätte es nie menschliche Gesellungen gegeben. Bevor Geld und später Kapital Vertrauen allmählich in Verträge verwandelten und das Skandalon des Vertrauensbruchs als Konventionalstrafe berechenbar machten, beruhte friedlicher Austausch - nicht nur von Dingen - auf Treu und Glauben: auf dem formal nicht abzusichernden Vertrauen, dass dem, der gibt, adäquat gegeben wird. Vermutlich hat man die Götter auch als symbolische Hüter dieses Verhältnisses erfunden.
Der Soziologe Marcel Mauss hat diese weitgehend versunkene Welt des Vertrauens einst als Gesellschaft der »Gabe« beschrieben; andere Menschenkundler sprechen von »moralischer Ökonomie«. Dass sich die Reste dieser Ordnung im Kapitalismus indes auch recht unmoralisch ausbeuten lassen, zeigt sich stets vor den Feiertagen: in Gestalt jener rührseligen Grußkarten zur Weihnacht und dem Jahresende, deren Motive von Künstlern stammen sollen, die aufgrund von Handicaps nur mit Mund oder Fuß den Pinsel führen können.
Selbst wenn man glauben will, dass hierbei Gewinne auch karitativen Zwecken zufließen, ist die Vertriebslogik infam. Ohne Vertragsgrundlage wird - oft älteren - Menschen ein Kartenstapel nebst Rechnung gesandt. Man setzt darauf, dass diese teuer kaufen, was sie nicht bestellt haben, weil sie noch nach Treu und Glauben ticken: Weil sie sich von dem Vertrauen, das ihnen wohl entgegenbringt, wer unaufgefordert Ware schickt, in einer altmodischen Weise verpflichtet fühlen, wenn nicht gar geehrt. Wenn sie das Produkt nicht wollen, neigen solche Menschen dazu, es immerhin zurückzuschicken - auf eigene Kosten, denn frankierte Rückumschläge sind fast nie in diesen Sendungen. Nur eins tun sie ganz sicher nicht, obwohl es ihr gutes Recht wäre in der Welt der Verträge: die Karten nämlich zu benutzen, ohne zu bezahlen. Das käme ihnen wie Diebstahl vor.
Genau dies ist aber die richtige Antwort. Ein Geschäftsmodell, das Gutwilligen in solcher Weise die ehrliche Haut über den Kopf zieht, ist nur in schnöden Kategorien der kapitalistischen Vertragsgesellschaft zu kontern. Um hierbei die Moral zu retten, lassen sich die Ersparnisse, die durch die dann gratis angeeigneten Grußträger auflaufen, dem Nächstbesten geben, der am Wegesrand die Hand aufhält. Die Menschen aber, die dann über seltsam kitschige Kartengrüße staunen, kläre man mit einer aufgeklebten Kopie dieses Textes auf. Oder mit einem handschriftlich vermerkten Link, wie man das heute eben so macht.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1108914.kapitalistischer-konter.html