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Neu denken, neugedacht
Nelli Tügel über eine Floskel, die oft falsche Erwartungen weckt
Der Kapitalismus lehrt: Wer etwas verkaufen will, sollte es als »neu« vermarkten. Der Buchversand Amazon eröffnet in New York einen Buchladen: Potzblitz, wie originell! Der Kleidungs- und Schuhbestelldienst Zalando bietet einen nigelnagelneuen Service an: Man kann nun Kleidungsstücke vor Ort anprobieren - wow! Samsung bringt das Klapphandy neu heraus! Und! Jetzt! Neu! ist Twix mit Spekulatiusgeschmack!
Unter Intellektuellen, in Wissenschaft und Politik funktioniert das so ähnlich wie bei Amazon, Zalando & Co.: Ideen, Theorien, Konzepte haben vor allem dann Aussicht auf Erfolg, Beachtung und Förderung, wenn sie als »neu« präsentiert werden. So reichte es jüngst der FDP Schleswig-Holstein nicht, eine Podiumsdiskussion zum Umgang mit Wölfen zu organisieren. Nein: Man versprach sogleich, man werde den »Wolf neu denken«. Sigmar Gabriel (SPD) meinte schon vor zehn Jahren, man müsse »Links neu denken«. Und selbst jene Rechten, die die 1950er, wenn nicht 1930er zurückwünschen, grenzen sich noch allemal von »Altparteien« ab. Auch an der Uni ist es gang und gäbe, vor einem geisteswissenschaftlichen Kolloquium den angeblich »neuesten« Ansatz, etwas zu denken, vorzustellen - noch besser ist es nur, Teil eines »Turns« zu sein. Denn wer stellt sich schon vor sein Publikum, um die Rückkehr zu etwas »überholtem« oder »überwundenem« zu proklamieren? Eben.
Ganz besonders beliebt ist die Floskel unter Linken. Nicht nur der Vermarktung wegen, sondern auch, um dem Selbstverständnis zu genügen, stets progressiv und offen für Neues und niemals konservativ, rückständig, altbacken oder dogmatisch zu sein. In großer Anzahl versprechen daher linke Buch- und Konferenztitel das neue Denken - der Demokratie, Europas, des Geschlechts, der Klasse, der Arbeit, des Werks von Marx, der Wirtschaftsdemokratie usw. Demnächst werden wir wohl dazu angehalten, Rosa Luxemburg ganz neu zu denken.
Oft verbirgt sich hinter dem derartig Angepriesenen genau das, was jene Autoren oder Konferenzveranstalter schon predigten, bevor sie das Label »neu denken« draufklebten. Dabei hieße dies wörtlich genommen ja, auch mal die eigenen Trampelpfade zu verlassen und Gewissheiten gegen den Strich zu bürsten - nicht gerade eine linke Tugend. Zudem ist das »Neue« meist gar nicht so neu, sondern, wenn überhaupt, nur neu entdeckt. Mit etwas Demut zeigt sich, dass die meisten Ideen, die als Modeerscheinungen durch linke Denkkollektive wabern (zuletzt etwa die »Neue Klassenpolitik«), schon vor uns ihre Wurzeln haben. Ehrlich wäre darum, das »neu Denken« zu überdenken, es wahrlich: neu zu denken.
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