Der zwischen Theresa Mays Regierung und der EU ausgearbeitete Brexit-Kompromiss ist im Unterhaus krachend gescheitert. Mit 202 gegen 432 Stimmen im Parlament zu verlieren, und zwar beim wichtigsten Thema der vergangenen zweieinhalb Jahre, das erinnert an den ungünstigen Ausgang der Begegnung zwischen der Titanic und dem Eisberg. Über hundert konservative Abgeordnete verweigerten der Premierministerin den Gehorsam. Sie halten die im Vertrag vorgesehene Backstop-Option, die die Offenhaltung der inneririschen Grenze sicherstellen soll, nicht für einen wichtigen Beitrag zum Frieden, sondern vielmehr für eine raffinierte Falle, um das Vereinigte Königreich auch nach Brexit auf unbestimmte Zeit eng an die EU zu binden. May bot Gespräche mit Vertretern aller Parteien an, zeigte jedoch bei der Substanz ihres Austrittsplans keine Kompromissbereitschaft, ebenso wenig EU-Unterhändler Michel Barnier. Was nun?
Oppositionschef Jeremy Corbyn bot eine Lösung an: sofortiges Misstrauensvotum, Abwahl der Regierung, Neuwahlen – und danach unter seiner Ägide Neuverhandlungen mit der EU. Fast alle anderen Parteichefs boten ihm beim Votum ihre Unterstützung, obwohl Ian Blackford von den Schottischen Nationalisten, Jo Swinson von den Liberalen und 71 Labour-Abgeordnete in einem offenen Brief statt Neuwahlen eine zweite EU-Volksabstimmung mit der Möglichkeit des EU-Verbleibs forderten.
Da jedoch die am Dienstag abtrünnigen Tory-Brexit-Extremisten und die nordirischen Democratic Unionists May ihre Hilfe beim Misstrauensvotum zugesichert haben, rechnete am Mittwoch niemand mit einem Erfolg des Corbyn-Antrags. Derweil schauen die EU-Partner dem Affentheater von Westminster fassungslos zu, der mit Pauken und Trompeten durchgefallene Deal, Ergebnis ihres eigenen jahrelangen Ringens, liegt im Dreck.
Eine parlamentarische Pattsituation ist damit entstanden. May hat sich mit den Tory-Rechten der European Research Group verkracht, fühlt sich jedoch noch immer ihren »roten Linien« von Januar 2017 verpflichtet: Ende der Freizügigkeit, »Freiheit« für Großbritannien, neue Handelsabkommen, auch auf Kosten der 44 Prozent des jetzigen Außenhandels, der mit der EU betrieben wird. Damit würden auch alle Abkommen hinfällig, die das Land als EU-Mitglied mit Drittstaaten geschlossen hat. Die britische Wachstumsrate sinkt, eine Unterbrechung der »Just in time«-Lieferketten droht. Kein Wunder, dass John Allan, Präsident des Unternehmensverbandes CBI, auf eine Verschiebung des auf den 29. März festgelegten Austrittstermins drängt.
Denn die Brexit-Uhr tickt unerbittlich, ein No-Deal-Austritt mit Beschimpfungen und Türenknallen wäre die Folge, sofern die Parlamentarier nichts anderes beschließen. Einige praktische Probleme dabei: Frische Lebensmittel und lebenswichtige Arzneieinfuhren könnten an den Grenzen bei Calais oder in Riesenstaus hinter Dover stecken bleiben. Gesundheitsminister Matt Hancock kauft schon Tiefkühltruhen und mietet Lagerhäuser, um Vorräte zu speichern, Verkehrsminister Chris Grayling chartert Fährschiffe. Während Tory-Brexiter die Wohltaten eines No-Deal-Austritts zu den Bedingungen der Welthandelsorganisation lobpreisen, will ihr Vorbild Donald Trump von internationalen Organisationen nichts wissen.
Also: Eine Katastrophe droht. Der sanfte Brexit, mit einer neuen Zollunion, wie von Labour-Chef Corbyn empfohlen, scheitert an Mays Beharren darauf, die Freizügigkeit zu beenden. Ähnliches gilt für die von gemäßigten Konservativen wie Nick Boles und Nicky Morgan wie auch von einigen Labour-Politikern bevorzugte Norwegen-Lösung mit Mitgliedschaft im Europäischen Freihandelsraum.
Die Volksvertreter haben sich in die Zwickmühle manövriert. Als letzter Ausweg bleibt nach Verschiebung des Austrittstermins um mindestens ein halbes Jahr eine zweite Volksabstimmung, mit unsicherem Ausgang, aber der Möglichkeit des EU-Verbleibs. Aber auch dafür gibt es noch keine Parlamentsmehrheit. Fazit: Kopfschütteln und Ratlosigkeit ringsum.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1110113.ablehnung-des-brexit-deals-ringsum-ratlos.html