nd-aktuell.de / 28.06.2019 / Politik / Seite 6

Sondergipfel zum Postenpoker

Die Staats- und Regierungschefs der EU suchen nach einem Vorsitz für die Kommission

Peter Eßer, Brüssel

Es ist ein simples und in Mehrparteiensystemen gängiges Prinzip: Die Parteien stellen Kandidatenlisten zur Wahl, die Wähler machen bei einer davon ihr Kreuz und in den anschließenden Koalitionsverhandlungen haben die Spitzenkandidaten der meistgewählten Parteien die besten Chancen auf Führungspositionen. In der Politik ist jedoch selten irgend etwas simpel. Die Neuverteilung der Top-Jobs der EU nach der Wahl zum Europaparlament Ende Mai gestaltet sich komplizierter denn je. Das Spitzenkandidatenprinzip, das bei der EU-Wahl 2014 erstmals zur Anwendung gekommen war, steht vor dem Aus.

Manfred Weber von der CSU erhebt als Spitzenkandidat der weiterhin stärksten Kraft im EU-Parlament, der Konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), Anspruch auf das wichtigste Amt: die Präsidentschaft der EU-Kommission. Doch die sozialdemokratischen und liberalen EU-Parlamentarier verweigern dem Bayern ihre Zustimmung.

Bei den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, die bei der Wahl des Kommissionspräsidenten das Vorschlagsrecht haben, ist der französische Präsident Emmanuel Macron schärfster Kritiker Webers. Neben seinen liberalen Kollegen hat der Franzose in den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Spaniens und Portugals Verbündete gegen den Konservativen gefunden. Aufgeben will Weber aber nicht und von seiner EVP erhielt er diese Woche noch einmal »volle Unterstützung«.

Für die Spitzenkandidaten der anderen Parteien stehen die Chancen noch schlechter. Die Sozialdemokraten halten zwar offiziell an ihrem Favoriten Frans Timmermans fest. Der Niederländer hat jedoch im Parlament keine Mehrheit und unter den Staats- und Regierungschefs waschechte Feinde - namentlich die Regierungen Polens, Ungarns und Rumäniens, gegen die er als erster Vizepräsident der scheidenden EU-Kommission Vertragsverletzungs- und Strafverfahren eingeleitet oder angedroht hatte. Die Bewerbung der Liberalen Margrethe Vestager aus Dänemark krankt vor allem daran, dass sie streng genommen keine Spitzenkandidatin war, sondern lediglich das prominenteste Mitglied eines »Spitzenteams« aus sieben Köpfen.

Die Grünen betonen gerne, nicht über Personalien, sondern Inhalte reden zu wollen. In den Strudel des Personalpokers wurden sie dennoch rasch hineingezogen. Die deutsche Grüne Ska Keller wird etwa als neue Präsidentin des Parlaments gehandelt. Tatsächlich schienen die Umweltschützer bei entsprechender Gegenleistung als einzige bereit, für Manfred Weber als Kommissionspräsidenten zu stimmen. Diesen Eindruck versuchte die Partei zuletzt nach Kräften wieder zu zerstreuen: Bei den Verhandlungen mit den Konservativen sei auf inhaltlicher Ebene etwa beim Thema Landwirtschaft kein gemeinsamer Nenner zu finden gewesen, hieß es aus Fraktionskreisen.

Die Perspektive, einen Bewerber zu akzeptieren, der nicht als Spitzenkandidat bei der Wahl angetreten ist, stößt im Parlament aber weiterhin fraktionsübergreifend auf Ablehnung. Vor diesem Hintergrund rumort es auch in den Reihen der Sozialdemokraten und Liberalen. In beiden Fraktionen hatte es durch die Wahl Ende Mai bedeutende Verschiebungen gegeben. Bei den Sozialdemokraten stellt nun die spanische Delegation die meisten Abgeordneten und den Fraktionsvorsitz. Bei den Liberalen geben die Macronisten den Ton an. Der Widerstand gegen Weber - und in Konsequenz das Ende des Spitzenkandidatenprinzips - scheinen aus Madrid und Paris gesteuert. »Das EU-Parlament ist kein verlängerter Arm nationaler Interessen«, schimpft ein Sozialdemokrat.

Am Sonntagabend kommen die Staats- und Regierungschefs zum dritten Gipfeltreffen innerhalb eines Monats in Brüssel zusammen. Die Zeit drängt, denn am Mittwoch darauf wählt das EU-Parlament seinen Präsidenten. Da alle EU-Top-Jobs miteinander zusammenhängen, werden dadurch erste Fakten geschaffen. Gibt es vorher keine Einigung, droht eine Blockade.