nd-aktuell.de / 20.07.2007 / Wissen
Wissensverlust durch zu lange Ferien?
Bildungsexperten plädieren für eine andere Verteilung von Unterricht und Freizeit
Walter Schmidt
Klaffen am Ende der sechswöchigen Sommerferien zu große Wissenslücken, die mühsam wieder aufzufüllen sind? Eher nicht, meinen Fachleute. Nur deutlich längere Ferien wie in den USA schaden sozial benachteiligten Kindern. Doch Fachleute sind ohnehin für einen anderen Rhythmus von Unterricht und Freizeit.
Wer je bis kurz vor Toresschluss für eine Prüfung gebüffelt hat, weiß um den Wissensverlust in den Tagen nach dem Test: Was am entscheidenden Tag selbst noch präsent war, verflüchtigt sich hinterher oft rasch - vor allem auswendig Gelerntes. Doch auch bei Rechen-Routinen, die nach der Prüfung nicht mehr angewandt werden, geraten bald in Vergessenheit.
Vor diesem Hintergrund erscheinen sechs Wochen Sommerferien als bedrohlich für den zuvor mühsam erworbenen Wissens- und Methodenschatz. Im Englischen heißen solche Rückschläge beim Erlernten im Sommer »summer setbacks«. Lernforschern und Pädagogen ist durch amerikanische Studien bekannt, »dass es in der Tat in den USA ein summer setback gibt, das für Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Sozialschichten unterschiedlich stark ausfällt«, sagt Professor Jürgen Baumert, der Direktor des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB) und wissenschaftlicher Leiter der ersten PISA-Studie in Deutschland aus dem Jahr 2000. US-amerikanischen Studien zufolge verlieren Kinder aus sozial benachteiligten Familien während der drei Monate währenden Sommerferien in den USA zumindest einen Teil der vorher erworbenen sprachlichen Fähigkeiten - mit der Folge, »dass die Schere zwischen den Kindern bildungsnaher Familien und den ohnehin benachteiligten Kindern nach jedem Sommer weiter auseinandergeht«, so heißt es in einer Mitteilung des MPIB.
In den Staaten dauern die großen Ferien etwa doppelt so lang wie in der Bundesrepublik - was hierzulande offenbar erfreuliche Konsequenzen hat: »In Deutschland ist ein derartiger Leistungsabfall über die Sommerferien nicht nachweisbar, auch nicht für Migrantenkinder«, schließt Baumert aus zwei Studien seines Instituts. In Bremen zum Beispiel hat das MPIB eine Sommerschule mit 8- bis 12-jährigen Kindern vorwiegend aus Zuwanderer-Haushalten ausgewertet. Angelehnt war dieser Lernsommer in drei Schullandheimen nahe Bremen an die Sommercamps und Sommerschulen, wie sie in den USA vielerorts üblich und in machen US-Bundesstaaten für lernschwache Schüler sogar Vorschrift sind. Denn während Kinder aus unterstützenden, wirtschaftlich gut situierten Haushalten während der Ferien durch anregende Gespräche mit den Eltern, interessante Freizeitangebote und Ferienlektüre gefördert werden, bleibt dies bei Altersgenossen aus ärmeren Verhältnissen oft aus.
Bessere Lernergebnisse durch weniger Unterricht
Wo Ansprechpartner fehlen, lassen sich die Kinder allzu oft von der Glotze zudröhnen - dies natürlich auch in Deutschland. Doch hierzulande dauern die Sommerferien womöglich nicht lange genug, um größeren Schaden anzurichten. Auch wenn beruflich eingespannten Eltern die Sommerferien sehr lange erscheinen können und besonders Alleinerziehenden das Betreuen ihrer Kinder erschweren, sind die großen Ferien in Deutschland vergleichsweise kurz. In den meisten europäischen Staaten dauern sie acht Wochen, in Griechenland, Italien, Spanien und Schweden zehn, in der Türkei und Lettland sogar zwölf Wochen, so lange also wie in den USA.
Nach Ansicht von Marianne Demmer, der stellvertretenden Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), können Lehrer allerdings auch nach sechs Wochen Unterrichtspause nicht einfach dort weitermachen, wo sie vor dem letzten Schultag aufgehört haben. Sie dürfen also nicht so tun, als sei alles zuvor Gelernte noch präsent. Demmer weiß, wovon sie redet: Sie war über 25 Jahre lang als Grund- und Hauptschullehrerin tätig. Ihrzufolge währen die großen Ferien auch deshalb sechs Wochen, weil es sommers in den Schulklassen der riesigen Fenster wegen oft unerträglich heiß werde. »Das ist für Schüler und Lehrer eine Tortur«, findet Demmer. Und in den Schüleraugen stehe dann ohnehin »nur noch der Wunsch, ich will ins Freibad«. Bei Ernte oder Feldarbeit helfen wie früher müssen inzwischen die wenigsten Schulpflichtigen im Sommer.
Darüber, ob Kinder und Jugendliche in Deutschland mit 12 Wochen Ferien zu viel oder gar zu wenig Pausen vom Unterricht haben, gebe es die unterschiedlichsten Ansichten. »Im PISA-Siegerland Finnland haben die Schüler weniger Unterricht als bei uns - bei längeren Pausen über den Schultag verteilt«, sagt Demmer. Es gebe die These, »dass ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Anspannung und Entspannung bessere Lern-Ergebnisse bringt«. Deshalb sei noch zu klären, »ob man überhaupt so viel Unterricht in Deutschland braucht, um die jetzigen Ergebnisse zu erzielen«. Die GEW trete ohnehin seit vielen Jahren für Ganztagsschulen ein, »aber es müssen gute sein«.
Letzteres sieht auch der Mediziner und Psychotherapeut Professor Joachim Bauer von der Uniklinik Freiburg so. »Zu den Veränderungen, die wir in der Schule dringend brauchen, gehört eine Erhöhung des Zeitbudgets ohne Zunahme des Lernstoffes, also eine Abschaffung der Hetze«, sagt der Verfasser des Mitte April erschienenen Buchs »Lob der Schule«. Das in der Halbtagsschule übliche »Abhaken im Eiltempo« sei, »neben vielen anderen, einer der Gründe für die Ganztagsschule«. Ebenfalls nötig sei »eine maßvolle Reduzierung der Ferienzeiten, zum Beispiel um zwei Wochen im Jahr«. Bauer würde in diesem Fall jedoch dafür eintreten, »dass die Schulen die Möglichkeit haben, diese zwei Wochen mit ihren Schülern mit Projekten zu gestalten«. Dabei denkt der Internist und Psychiater auch an Musik, Theater, Kunst und Sport, aber auch an soziale Projekte.
45-Minuten-Rhythmus dämpft Lernfreude
Auch für die Pädagogin Barbara Windorf vom Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien in Bad Berka müssen die Sommerferien nicht auf alle Zeit sechs Wochen dauern. Über eine Neuverteilung der Ferienzeiten aufs Jahr sollten ihrer Ansicht nach die Lehrer, Schüler, Eltern und Partner der Schule vor Ort »eigenverantwortlich entscheiden«. In einer schülergerechten »Rhythmisierung von Tag, Woche, Monat, Kalender- und Schuljahr liegt Entwicklungspotenzial, das reformpädagogische und reformorientierte Schulen bereits nutzen«, sagt die Expertin für Schulentwicklung und Reformpädagogik.
Dass so viele Schüler sich auf die langen Sommerferien freuen, muss kein Argument für die sechswöchige Pause sein. Eher ist es eines gegen die noch weitverbreitete Schulform von heute, die Kinder und Jugendliche einen halben Tag lang ohne nennenswerte Pausen im willkürlichen 45-Minuten-Rhythmus mit Wissen abfüllt. Selbst für besser zur Konzentration fähige Erwachsene wäre dies eine große Herausforderung - für die Schüler ist es seit Langem eine. Wer dies fünf Tage pro Schulwoche aushalten muss, ist aus guten Gründen froh, wenn im Sommer für sechs Wochen Schluss ist mit einem solchen »Fetzenstundenplan« - so nannte der 1952 gestorbene Reformpädagoge Peter Petersen den üblichen Schulstunden-Takt. Wer hingegen Spaß beim gemeinsamen Lernen mit Anderen hat und den Zuwachs an Wissen und Können als sinnvoll erlebt, wird sich mit einiger Wahrscheinlichkeit das Ende der Ferien herbeisehnen. Zumindest aber wird er es nicht mehr fürchten.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/113081.wissensverlust-durch-zu-lange-ferien.html