»Für Betroffene wäre es sehr sinnvoll, wenn es eine eigene Beratungsstelle oder eine Nummer gäbe, an die man sich wenden könnte«, sagt ein unter Quarantäne stehender Kollege des sechsten offiziellen Coronavirus-Infizierten der Hauptstadt.
Der Fall wurde am Dienstagabend bekannt. Es handelt sich um einen Mann aus Mitte, der mit dem ersten Berliner Patienten, einem 22-Jährigen, in einem Großraumbüro zusammengearbeitet hat. Alle anderen fünf Erkrankten hätten nichts miteinander zu tun, teilte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) mit.
Seinen Namen möchte der Kollege des sechsten Kranken aus persönlichen Gründen nicht in der Zeitung lesen. Es gehe ihm gut, sagt der Mann. »Ich bin froh, dass ich unter Quarantäne stehe.« Natürlich sei er zunächst sehr besorgt gewesen: »Mehrere Tage lang habe ich keine ausreichenden Informationen erhalten, wie meine Familie und ich uns zu verhalten haben.« Stattdessen habe sich jeder Mitarbeiter des Großraumbüros individuell beim jeweils zuständigen Bezirksgesundheitsamt informieren müssen.
Mit zum Teil sehr unterschiedlichen Ergebnissen: Während das Amt in Pankow weder Quarantäne noch Tests anordnete und die Kinder der Betroffenen umstandslos wieder in die jeweiligen Einrichtungen entließ, ordnete das Amt in Mitte Test und Quarantäne für alle Familienmitglieder an. In Treptow wiederum wurden Betroffene angehalten, einen Test durchzuführen und bis zu einem Ergebnis in Quarantäne zu bleiben.
In Kreuzberg, berichtet der Betroffene von den Bemühungen seiner Kolleg*innen aus dem Großraumbüro, wurde dagegen kein Test durchgeführt. Nur auf massiven Druck hin habe es überhaupt eine Rückmeldung gegeben. Das Gesundheitsamt Lichtenberg soll, so sagt der Mann, gar nicht zu erreichen gewesen sein.
»Die Informationskette der vergangenen drei Tage war sehr, sehr langsam«, kritisiert der Mann. Seit Mittwochvormittag scheint sie nun zu funktionieren. Drei Tage hat es gedauert, bis die Bezirksämter die Anweisung einheitlicher Maßnahmen eingeführt haben. »Natürlich sind die komplett überlastet«, zeigt der Betroffene Verständnis. Es gebe aber in seinen Augen eine deutliche Diskrepanz zwischen politischen Aussagen, die eher vor dem Hintergrund von Meinungsbildern entstünden, und ärztlichen Meinungen. Im konkreten Fall gehen die Amtsärzt*innen davon aus, dass flächendeckende Tests nicht sinnvoll seien, sondern nur bei Symptomen getestet werden solle, dann aber schnell.
Für das betroffene Großraumbüro heißt das: Alle bis auf zwei Mitarbeiter*innen des besagten Großraumbüros sind mittlerweile in häuslicher Quarantäne. Die Senatsgesundheitsverwaltung hatte am Dienstagabend dazu mitgeteilt: »In dem ersten positiv getesteten Fall geht es um mehrere Kontaktpersonen, die in einem Großraumbüro zusammengearbeitet haben. Zwei von ihnen sind positiv bestätigte Fälle. Daher bleiben wir bei unserer Empfehlung, alle Personen in diesem Großraumbüro testen zu lassen. Auch wenn in diesem Fall verschiedene Bezirke zuständig sind, gehen wir von einer einvernehmlichen Lösung aus.«
Am frühen Mittwochabend wurde deutlich, wie richtig diese Einschätzung war, denn zwei weitere Beschäftigte aus dem Großraumbüro wurden inzwischen positiv auf das Coronavirus getestet. Zwei Frauen aus Friedrichshain-Kreuzberg hatten beide mit dem zuerst bekannt gewordenen Fall in einem Großraumbüro zusammengearbeitet, hieß es seitens der Senatsverwaltung für Gesundheit am Mittwoch.
Dass die Gesundheitsämter im Umgang mit möglichen Kontaktpersonen zuvor offenbar unterschiedliche Vorgehensweisen verfolgten[1], beunruhigt den Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses im Berliner Abgeordnetenhaus, Wolfgang Albers, überhaupt nicht. Es sei doch klar: »Es gibt besonnene und hektische Reaktionen«, sagt Albers. Dem Gesundheitsexperten der Linksfraktion geht die gegenwärtige Hysterie ordentlich gegen den Strich. »Zurzeit haben wir mehr damit zu tun, die Angst zu bekämpfen, als die Menschen ärztlich zu versorgen«, so Albers. Und: »Die Angst ist ansteckender als die Krankheit.«
Durchaus selbstkritisch sieht Albers indes die Lage des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (siehe Kasten), dem auch die Amtsärzt*innen zuzurechnen sind. »Unabhängig davon, dass sie zu schlecht bezahlt werden, gibt es viel zu wenige«, sagt Albers. Zudem sei die 60 Monate lange Ausbildung zum »Arzt im Öffentlichen Gesundheitswesen« sehr langwierig.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1133795.coronavirus-angst-ansteckender-als-krankheit.html