nd-aktuell.de / 04.04.2020 / Kultur / Seite 11

Heulbefehl

SCHUFA DER LIEBE über gepflegtes Abzuheulen

Paula Irmschler

Es ist die Zeit der kollektiven Schwäche. Allen kratzt es mindestens im Hals, niemandem geht es so richtig gut, einigen geht es sogar richtig schlecht. Existenzängste hier, gesundheitliche Probleme da, systemisches Versagen, neues Zeitmanagement, Ohnmacht, alte Sorgen, neue Sorgen, Kindergeschrei, Elterngeschrei, ich flipp schon aus, wenn ich nur daran denke.

»Wir wurschteln uns so durch«, sagen die meisten, wenn man sie fragt, wie sie ihren derzeitigen Alltag bestreiten. Kinder müssen zu Hause unterrichtet werden, Ältere dürfen nicht mehr besucht werden, man selbst ist vielleicht sogar systemrelevant, Sozialkontakte sind auf eine kleine Gruppe von Menschen reduziert, wenn überhaupt. Die Stimmung ist gereizt, man sieht es zum Beispiel in den Supermärkten. Eine Packung Superkäse, an die man nicht rankommt, weil davor jemand steht und nicht weggeht - und das ganze notdürftig zusammengetapte Nervenkostüm ist bereit, jetzt und hier zu explodieren und alles zu vernichten, verdammt noch mal. Was soll das denn, und warum gibt sich hier niemand Mühe, während man selbst seit Tagen, ach, seit Wochen, alle Sachen eingehalten hat, Händewaschen, Abstand, sogar Mundschutz, der ja nun doch was bringen soll! Aber diese Person hier steht vor dem Käse und dem eigenen Glück und will einfach nicht verschwinden - im Gegenteil: Kommt die Person etwa noch näher? Kopf ab???

Nein, nein, sagt euch die Eso-Hippiefrau, auf die ihr nie reinfallen wolltet, die aber, jetzt in meiner Gestalt, recht vertrauenswürdig wirkt, weil sie bisher selten mit kruden Weltanschauungen aufgefallen ist. Kommt mal her. Es ist gerade nicht einfach. Es ist alles viel zu viel oder zu wenig. Ihr mögt euch wie eine offene Wunde fühlen. Ihr seid vielleicht wieder in der Pubertät. Das ist alles okay, wir haben so was alle noch nicht erlebt.

Deswegen ist es wichtig, ab und an gepflegt was abzuheulen und anderen Zeit und Raum zu geben, was abzuheulen. Viele wollen und können das vielleicht nicht tun, weil sie funktionieren müssen oder wollen. Aber es muss möglich sein, irgendwie. Manche glauben vielleicht, sie hätten keinen richtigen Grund oder zu viele. Manchen wurde Heulscham antrainiert. Manchen wurde gesagt, dass es sich als Mann nicht schickt. Manche glauben, es sei ein Zeichen von Schwäche, dabei ist es eines von Stärke. Aber das ist auch egal, weil Stärke gar nicht immer so geil ist, wie die meisten glauben. Heulen ist wichtig. Es ist wie Menstruieren, Pullern, Niesen, Verlieben oder diese Hibbeligkeit, wenn etwas Krasses passiert ist und man es einer bestimmten Person sofort erzählen muss. Es ist Detox, wenn ihr so wollt. Es muss raus. Man darf es nicht verschleppen. Heute Abend heulen mal alle gut was weg.