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Keine Zeit mehr für Experimente
Die Berlin Volleys erreichen das Bundesliga-Halbfinale. Ihr Potenzial haben sie aber noch nicht abgerufen
Éder Carbonera ließ sich den Schmerz nicht anmerken, den er mit Sicherheit gerade spürte. Sein Mitspieler Sergej Grankin hatte dem brasilianischen Volleyballer in Diensten des deutschen Meisters Berlin Volleys gleich zu Beginn des ersten Satzes unbeabsichtigt einen Aufschlag an den Hinterkopf geschmettert. Éder zuckte nur kurz mit den Schultern, als wollte er sagen: Ich lasse mich heute von nichts aufhalten. Eine Minute später schlug Éder selbst auf und machte es besser als sein russischer Zuspieler: ein Ass zum 3:2. Die Gegner der Netzhoppers KW-Bestensee sollten danach nicht einmal mehr in Führung gehen. Im gesamten Match.
Vor allem der hohe Aufschlagdruck reichte Favorit Berlin am Mittwochabend, um auch das zweite Viertelfinalspiel gegen Bestensee mit 3:0 (25:22, 25:14, 25:21) zu gewinnen und damit als letztes Team ins Halbfinale um die deutsche Meisterschaft einzuziehen. Dabei zeigte er noch immer nicht die dominante Leistung, die der Hauptrundendritte von sich selbst erwartet. Erneut wurde der Gegner trotz teils hoher Führungen in jedem Satz immer wieder herangelassen. Immerhin aber fand die Mannschaft von Berlins Trainer Cédric Énard nun aber in diesen wichtigen Momenten, in denen Spiele kippen können, die richtigen Antworten. »Wir haben das Halbfinale erreicht. Nach einer Saison mit so vielen Schwierigkeiten freue ich mich heute einfach nur über das Erreichte und lasse mich nicht von Kleinigkeiten ablenken«, sagte Énard nach dem Spiel.
Der Franzose wechselte in der gesamten Partie nicht einen Spieler seiner Stammformation aus, auch wenn die Berliner auf der Bank sicher besser besetzt sind als jeder andere Bundesligist. Die Annahmereihe aus den beiden Franzosen Samuel Tuia und Timothée Carle sowie dem deutschen Nationalmannschaftslibero Julian Zenger muss spätestens jetzt gefestigt werden. »Das habe ich heute forciert. Unser Halbfinalgegner Düren hat ein hohes Niveau im Aufschlag. Da müssen die Jungs aufeinander eingespielt sein. Das wird mit der Zeit auch immer besser, und darüber freue ich mich«, so Énard. »Es ist keine Zeit mehr für Experimente. Jetzt ist die Zeit für Siege. Es geht nicht mehr darum, jedem mal Einsatzzeiten zu geben.«
Auch wenn die Abwehr weiterhin ein paar Schwächen aufzeigte, brachte die Konzentration auf eine Stammformation an anderer Stelle Vorteile. »Die Jungs brauchen auch im Aufschlag ihren Rhythmus. Da stören viele Wechsel nur. Und man merkt, dass wir jetzt viel mehr Punkte und weniger Fehler mit unseren Aufschlägen machen als noch vor ein paar Wochen. Das brauchen wir unbedingt auch gegen Düren«, sagte der Trainer. In der Tat gelang fast jedem Berliner mindestens ein Ass, insgesamt waren es am Ende elf. Die Netzhoppers schafften dagegen nur drei. Selbst wenn Berlins Manager Kaweh Niroomand der Partie eine schlechte Qualität bescheinigte, in der sein Team nur aufgrund des besseren Aufschlags gewonnen hätte, wusste Coach Énard doch, dass im modernen Volleyball genau hier fast immer der Schlüssel zum Erfolg liegt. Ein guter Aufschlag bringt mehr leichte Punkte und macht es zugleich dem eigenen Block einfacher, den gegnerischen Angriff zu lesen. Insofern ist die Konzentration auf einen starken Aufschlag durchaus sinnvoll für die Berlin Volleys.
Der allein wird gegen Düren im Halbfinale aber nicht mehr reichen. Dann muss Berlin noch die vielen Ungenauigkeiten im Spielaufbau abstellen. »Manchmal fehlt uns noch der absolute Fokus. Dadurch haben wir auch KW immer wieder rangelassen. Erst wenn es eng wurde, haben wir uns wieder auf unsere Aufgabe konzentrieren und wegziehen können«, erkannte der 34-jährige Tuia das Hauptproblem seiner Volleys. Auch sein neun Jahre jüngerer Landsmann Carle wusste: »Die Konzentration hochzuhalten, ist das Wichtigste in den Playoffs. Wir müssen uns dafür in den kleinen Situationen noch verbessern, wenn mal ein Abpraller vom Block kommt oder wir den Ball vom Boden kratzen. Diese Chancen, einen Punkt zu machen, müssen wir noch ruhiger ausspielen. Nur so werden wir Meister. Und das bleibt unser Ziel.«
Für die Netzhoppers aus Bestensee ist es hingegen Zeit, sich neue Ziele zu setzen, schließlich endete ihre Saison mit der Niederlage in der Berliner Max-Schmeling-Halle. »Ich bin doch sehr zufrieden: Zehn Siege in der Bundesliga, dazu haben wir das Pokalfinale erreicht. Ohne die Corona-Pandemie wäre es eine Topsaison gewesen«, zog Netzhoppers-Trainer Christophe Achten Bilanz. »Wenn du Sechster in der Hauptrunde wirst, spielst du normalerweise auch nicht gleich im Viertelfinale gegen die stärkste Mannschaft. Da hatten wir leider Pech.« Ansonsten war es mit einer jungen Mannschaft, dem neuen Trainer und einem der kleinsten Ligaetats gelungen, ein paar Ausrufezeichen zu setzen, allen voran die Siege gegen Berlin und Düren im Pokal.
Die kommenden Wochen werden nun entscheiden, ob der Verein darauf aufbauen und die junge Mannschaft zusammenhalten kann. »Natürlich kommen jetzt Anfragen von anderen Klubs, weil viele unserer Spieler eine gute Saison gespielt haben. Und gehaltsmäßig können wir nicht so viel bieten wie andere«, umriss Achten das Problem der Brandenburger, die schon froh waren, dass während der Pandemie alle Sponsoren zum Verein gehalten hatten. Große Sprünge nach vorn werden aber nicht möglich sein. Wer wie die Netzhoppers auf junge Spieler setzt, hat das Problem, dass die irgendwann den nächsten Schritt gehen wollen. Vielleicht hat ihnen der Pokaleinzug aber gezeigt, dass der mittlerweile auch in Brandenburg machbar ist.
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