nd-aktuell.de / 05.07.2021 / Kultur / Seite 12

Die Disney-Prinzessin und der Makel

»Entstellt« von Amanda Leduc ist ein Buch über Behinderung und über Märchen

Frédéric Valin

Amanda Leduc ist entstellt. Infolge einer Zerebralparese hinkt sie etwas. Und Amanda Leduc liebt Märchen. In Märchen aber sind oft die Entstellten die Bösen; jeder charakterliche Makel entspricht einem körperlichen Makel. Seit ihrer Kindheit stellt sich ihr die Frage: Ist sie selbst also eine böse, das heißt: unerwünschte Person?

In ihrem Buch »Entstellt« macht Amanda Leduc zweierlei: Sie erzählt, wie sie, die vergleichsweise wenig körperlich eingeschränkt ist, behindert wurde - wie sie gehänselt, gemobbt und runtergemacht wurde; wie sie diese Hänseleien in eine Depression getrieben haben, und wie sie vor sich selbst versuchte wegzulaufen und es ihr nicht gelang. Und sie erzählt die Geschichte der Märchen ihrer Kindheit, die sie fasziniert haben. Wie sie immer eine Disney-Prinzessin sein wollte, aber - wenn sie auf ihren Körper blickte - den Makel sah, der der Märchenhaftigkeit im Wege stand. Dabei untersucht sie die einzelnen Erzählungen nicht wissenschaftlich, sondern klopft sie darauf ab, was sie heute noch zu sagen haben.

Man erfährt in ihrem Buch viel über Märchen; auch darüber, wie Märchen benutzt wurden, um bestimmte Ideen durchzusetzen. Die Form des Märchens löst sich im 17. und 18. Jahrhundert aus der oralen Tradition der Volkserzählung und wird durch Autoren wie Charles Perrault, Hans Christian Andersen oder die Gebrüder Grimm zivilisiert, verbürgerlicht und christianisiert. Es ist ein aufschlussreiches Verdienst des Buches, nicht nur die gängigen Varianten der im Kanon etablierten Autoren zu zitieren, sondern gleichzeitig an die Versionen zu erinnern, die ihnen vorangegangen sind; und die insbesondere im französischen Märchen oft von Frauen wie Catherine Bernard gesammelt und verfasst wurden.

Überhaupt ist das Buch von Amanda Leduc sehr sensibel für historische Hintergründe, Framings und Narrative: Es gelingt ihm quasi nebenbei aufzuzeigen, wie sehr diese allzu oft als Wokeness verschriene Haltung ein Gewinn ist und Erkenntnisse bringt.

Amanda Leduc hat ein Buch geschrieben für Menschen, die Märchen mögen und glauben, dass diese heute noch etwas zu erzählen haben. Es ist auch ein Buch darüber, wie Behinderung noch immer dargestellt wird. »Behinderung«, so zitiert sie Tobin Siebers an einer Stelle, »wurde in der Geschichte lange in den Dienst von Diskriminierung, Ungleichheit und Gewalt gestellt.« Und wie sich diese These anhand einer Biografie erzählen lässt, welchen Einfluss dieser Umgang mit Behinderung auf Stigmatisierte hat, davon erzählt »Entstellt« auf eindrückliche und zarte Weise.

Amanda Leduc: Entstellt. Über Märchen, Behinderung und Teilhabe. A. d. Engl. v. Josefine Haubold. Nautilus, 288 S., br., 20 €.