nd-aktuell.de / 07.01.2022 / Kultur / Seite 12

Metalstreber

Plattenbau. Die CD der Woche: »When Dream And Day Reunite « von Dream Theater

Benjamin Moldenhauer

Virtuosität kann auch abtöten. Wobei es Spartenunterschiede gibt. Im Jazz ist sie eine Voraussetzung von Freiheit, im Metal hingegen tendiert sie dazu, die Musik eng zu machen: Es dringt mitunter keine Empfindung mehr durch den kalt gepressten Klang hindurch. Das nennt man dann Progressive Metal[1], was ein wenig in die Irre führt, weil das Musikverständnis in solchen Fällen doch ein eher konservatives ist.

Je mehr komplizierte Melodieläufe und durchkomponierte Breaks man übereinandergetürmt bekommt, ohne dass alles auseinanderfliegt, desto besser. Obendrauf dann noch eine Stimme, die, Oktave rauf, Oktave runter, todernst und dramatisch pompöse Quatschtexte darbietet.

Die Band Dream Theater hat dieses Prinzip in den letzten 35 Jahren perfektioniert. Alles sitzt bis ins kleinste Detail, jedes Hochgeschwindigkeitsgerödel am Keyboard, jeder wieselflinke Gitarrenlauf, jeder sorgfältig ausgerechnete Break. Musik, die wirkt, als hätten die Männer an den Instrumenten jeweils einen rechten Winkel mit appliziertem Metronom im Hintern stecken.

Es klingt also, wenn man ehrlich ist, ganz fürchterlich, eigentlich. Aber es ist doch auch faszinierend, sich das anzuhören. Wie ja auch Hochleistungssport schön anzusehen ist. Und zu entdecken ist auch immer was. Da rollt noch mal einer besonders agil über die Trommeln, hier noch der 35. Gitarreneffekt und ein Basslauf mit zwölf Anschlägen auf anderthalb Sekunden.

Die Emotionen, auf die diese Band bei ihren Hörer*innen zielt, sind Bewunderung und Ehrfurcht, und es bleiben dann auch erst einmal die einzigen.

In den letzten Jahren sind Dream Theater dazu übergegangen, ihr Archiv auszuwerten und in der »Lost Not Forgotten Archives«-Reihe Konzertaufnahmen, Demos und Liegengebliebenes zu veröffentlichen. Die fünfte Folge erinnert an die erste Phase der Band - ein Mitschnitt eines Konzertes von 2004 in Los Angeles, bei dem das Debütalbum »When Dream and Day Unite« zur Gänze aufgeführt wurde.

Dabei waren die ersten beiden Alben für lange Zeit noch die geradlinigsten, mit einem ganzen Schwung hübscher Melodien. »A Fortune in Lies« und »Afterlife« haben schöne Power-Metal-Refrains. »Status Seeker« beginnt mit einer frohsinnigen Keyboard-Linie, die auch auf einem Genesis-Album der Achtziger nicht weiter aufgefallen wäre.

»The Killing Hand« wird auf zwölfeinhalb Minuten ausgewalzt, weil man es kann. Und so geht es weiter, alles natürlich vorhersehbar, weil Dream Theater mit ihrer eigenen Musik genauso umgehen wie mit der Musik anderer Bands, die sie auf ihren Konzerten gerne covern: Das Material wird so perfekt wie möglich reproduziert. Und das ist es dann auch. Spontanität oder gar Fehler, die möglicherweise irgendwas lebendig werden ließen, wird man hier nicht finden.

Die Perfektion dieser Musik aber hat dann doch ihren Reiz. Man hört und staunt und langweilt sich nicht, weil immer was los ist und das Ganze nicht frei von Komik bleibt. Unfreiwillig wahrscheinlich, aber egal. Dream Theater haben bei aller Musikhochschuldisziplinierung hörbar Spaß an dem pompösen Krams, den sie zuverlässig produzieren.

Dream Theater: »Lost Not Forgotten Archives: When Dream And Day Reunite (Live)« (Inside Out Music/Sony Music)

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1120853.dem-hoerer-auf-die-glocke-hauen.html?sstr=Progressive|Metal