- Politik
- Tod von Michail Gorbatschow
Für Frieden und Einsturz
Lange vor Michail Gorbatschow starb die Hoffnung auf kooperative Weltpolitik
Berlin. In einer Hymne besang Johannes R. Becher einst Lenin: »Er rührte an den Schlaf der Welt / Mit Worten, die Blitze waren.« Lenin war einst maßgeblich für die Gründung der Sowjetunion verantwortlich. Michail Gorbatschow machte sprichwörtlich das Licht aus im Machtzentrum der Sowjetmacht – und im Haus der Warschauer-Vertrags-Staaten. Zuvor hatte er zumindest an den Schlaf der Vernunft gerührt. Mit vielen Worten und auch mit konkreten Abrüstungsschritten und -abkommen. Die führten zu einer deutlichen Reduzierung der atomaren Waffenarsenale in Ost und West. Denn er war einer, der die tödliche Gefahr für die Menschheit sah, die das Wettrüsten zwischen Nato und Warschauer Vertrag bedeutete.
Diese Gefahr entscheidend zu verringern und ein Ende des Glaubens an das »Gleichgewichts des Schreckens« herbeizuführen, war das, was ihn zunächst antrieb, als er 1985 der mächtigste Mann der Sowjetunion wurde. Dies zumindest für eine Weile erreicht zu haben, ist das bleibende Verdienst des früheren Generalsekretärs der KPdSU, der am Dienstag im Alter von 91 Jahren in einer Moskauer Klinik verstorben ist.
Doch zugleich gehört es auch zu Gorbatschows Erbe, dass die Welt heute angesichts eines Krieges zittert, den die Atommacht Russland vom Zaun gebrochen hat. Denn sein Vertrauen in seine westlichen Gesprächspartner einerseits und sein Desinteresse an Stabilisierung der gemeinschaftlichen wirtschaftlichen Basis seines Landes wie auch der von ihm abhängigen Staaten war geradezu fahrlässig groß.
Die beispiellosen gesellschaftlichen Verwerfungen in seinem Land waren auch durch seine Politik der Öffnung und der ausgestreckten Hand gegenüber der kapitalistischen Welt verursacht. Und durch den von ihm mit zugelassenen Ausverkauf der Werte des Landes an eine schmale Schicht von Ex-Funktionären, die zu Ur-Kapitalisten mit märchenhaftem Reichtum wurden. Die Masse der Bevölkerung verarmte zugleich dramatisch, die Gesellschaft versank in Gewalt und Chaos, was den bis heute anhaltenden Hass auf Gorbatschow im eigenen Land erklärt.
In der Folge sehnten sich die Menschen nach Wiederkehr einer gewissen Ordnung und nach Führung – die ihnen Wladimir Putin bot. Und damit ist auch er ein Erbe der Politik Gorbatschows. Und einer, der mit dem Angriff auf die Ukraine jetzt seinen Teil zur Destabilisierung der Weltordnung beiträgt – die seit der Implosion der realsozialistischen Staaten von einer stetig anwachsenden Zahl bewaffneter Konflikte geprägt ist. Die wurden jahrzehntelang weltweit maßgeblich vom Westen und der Nato gefördert, nicht zuletzt die Konflikte zwischen Russland und er Ukraine wurden von ihm angeheizt. Das »Gleichgewichts des Schreckens« ist längst wieder Kern der militärischen Strategie der Militärbündnisse, allen voran der Nato.
Dennoch wäre es ahistorisch, Gorbatschow als Verräter an den Pranger zu stellen. Denn der Niedergang des Sozialismus vollzog sich über Jahrzehnte. Der Westen arbeitete mit allen Mitteln daran, doch die Mächtigen im Ostblock taten dies genauso wirkungsvoll. Gorbatschow war allenfalls derjenige, der den Dominostein umstieß, der den Einsturz des maroden Gebäudes auslöste.
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