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Schauen durch Hören

Gestern, Heute und Morgen gehen zusammen in eine Bar: Das war das Berliner Hörspielfestival

  • Anke Dörsam
  • Lesedauer: 5 Min.
Schostakowitsch ans Telefon! Die Klangkunst-Gruppe Atonor spielte live beim Hörspielkunstfestival
Schostakowitsch ans Telefon! Die Klangkunst-Gruppe Atonor spielte live beim Hörspielkunstfestival

Das Radio ist ein Raum mit 1000 Türen. Je nach Frequenz senden täglich Hunderttausende Minuten an Nachrichten, Musik, Dokumentationen und Features durch die Welt. Man muss nur einen Empfänger darauf einstellen und einen Lautsprecher oder Kopfhörer anschließen. Von den Audio-Formaten, die es online gibt, als Podcasts oder Streams, ganz zu schweigen.

Warum macht nun ein Hörspielfestival eine Veranstaltung, bei der sich Menschen an einem Ort versammeln und Audio-Kunst mithilfe von Saaltechnik zusammen hören? »Wir wollen Hörspielmacher und Publikum vernetzen. Dass nicht nur alle an einem Rechner sitzen, die einen basteln, die anderen hören«, sagt Jochen Meißner, einer der Macher des Berliner Hörspielfestivals seit den Anfängen im Jahr 2008. Diese Sätze sind im Jahr 2022, im Jahr drei der Pandemie, noch einmal besonders aktuell. Aber nicht nur die Sehnsucht der Menschen nach Begegnungsorten hat das Festival verändert, sondern auch ganz handfest die Fördermöglichkeiten.

Am Sonntag ging es zu Ende. Schon im zweiten Jahr fand das Festival, das vorher eine No- bis Low-Budget-Veranstaltung war, in der Akademie der Künste im Hansa-Viertel in Berlin-Tiergarten statt, einem Ort, der selber mal Pläne hatte, neue Räume für das Zusammenleben der Menschen zu finden. In der Wohnungsnot nach dem Krieg sollte im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Interbau 1957 hier modernes Leben in der Stadt geschaffen werden: Zentral, in hohen Wohnblöcken zwischen viel Luft, Licht und Natur, angebunden an Infrastruktur wie Apotheke, Ärzte und Supermarkt, aber eben auch Kultur, wie die Hansa-Bibliothek und die Akademie der Künste, die gleichzeitig inmitten dieser Wohnblöcke und inmitten der Bäume und Grünflächen des Großen Tiergartens liegen.

Diesen Ort spricht auch die Schriftstellerin Kathrin Röggla, Vizepräsidentin der Akademie der Künste, bei der Eröffnung an: »Er scheint wie dafür gebaut«, sagt sie – um durchs Haus zu gehen, um von Innen ins Außen zu wechseln und zurück, zu verweilen, sich zu konzentrieren, ins Gespräch zu kommen, alleine zuzuhören. Im Innenhof der Akademie werden die Veranstaltungen aus dem Großen Saal ins Freie übertragen, es stehen dort die Liegestühle des Berliner Kultursommers, ein Baum ist in ein tiefes Blau getaucht, während von der Garten-Bühne andere bunte Lichter strahlen.

Die Situation der RBB-Freien wird angesprochen, die um ihren Sender kämpfen. Was wird aus den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten? Das Hörspielfestival ist ein Ort der freien Szene. Menschen in schwarzen T-Shirts und Turnschuhen wie die Klangkunst-Gruppe Atonor produzieren auf der Bühne live und aufregend rhythmische Klänge aus Plastikflaschen und von Pelotons, in ungewohnten Harmonien, die auf Schostakowitsch aufbauen könnten, wenn sie nicht etwas ganz Eigenes wären.

Radio-Kunst entsteht zwischen No-Budget und den gut dotierten Aufträgen des öffentlichen Rundfunks, zwischen Experiment aus Klang und Musik, Text und Collage und öffentlichem Bildungsauftrag und Sendeplätzen auf der anderen Seite. Die Radioanstalten so zu erhalten, dass sie Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten für das Widerständige behalten, gerade Arbeitsmöglichkeiten für die Freien zu stärken, ist ein wichtiges Thema.

Im Hörspiel ist alles möglich. Es kann alles und muss nichts, diese Sätze fallen immer wieder. Im Gegenteil, die genaue Auswahl der Mittel erlaubt eine Konzentration, die präsentische Momente ermöglicht, die viele nicht nur in der Pandemie suchen. Gerade durch das Fehlen der visuellen Dimension erlaubt das konzentrierte Zuhören einen neuen Blick. Es ist ein immer wieder Neu-Ansetzen im gewohnten oder ungewohnten Raum, wenn man sich auf den Klang konzentriert, ein Innehalten im Moment. Zerstreuung und Konzentration, Aufmerksamkeit und Schweifen.

Die Montage ist laut Tatjana Martschenko das eigentliche Gestaltungsprinzip des Hörspiels. Es nähert sich darin dem menschlichen Denken. Die Zusammenstellung von Ausschnitten, Details, Bruchstücken ergibt keine bloße Summe, sondern eine neue Qualität.

Wege des wieder kollektiven Zusammenfindens des Hörens suchen die Orte der Akademie, im Saal, im Innenhof und beim Projekt »1001 Minutes for Ukraine«. Das ist eine Installation aus 1-Minuten-Stücken, die als Work in progess ein Zeitzeugnis zum Ukraine-Krieg erstellt und für die eigene Stücke im Hörspielmobil aufgenommen werden können. Desweiteren gibt es Audiowalks, bei denen aufeinander geachtet wird, wer vom Weg abkommt bei diesen sich verstreuenden, verschlungenen Wegen. Auf der gemeinsamen Leinwand gibt es für jedes Hörstück eigens komponierte Visualisierungen von Josef Maria Schäfers.

Anders als bei anderen Festivals wie der Berlinale stehen nicht die Stars im Vordergrund, es ist nichts von Konkurrenz oder Insider-/Outsider-Dynamiken zu spüren. Dabei sind die Elemente der längeren Stücke wie Peter Stamers »26. April 1986« anspruchsvoll geschnitten. »Gestern, Heute und Morgen gehen zusammen in eine Bar«, heißt es darin.

Was man beim Wechsel der Hörstücke erlebt, die nicht nach Genre, sondern nach Länge geordnet sind und um die Preise »Das glühende Knopfmikro«, »Das kurze brennende Mikro« und »Das lange brennende Mikro« in Wettbewerb treten, ist ein Sich-treiben-Lassen wie durch einen Abend beim Streunern durch die Stadt. Es erinnert an das Scrollen durch Social Media, aber es folgt einem Inhalt, der nicht von Algorithmen vorgegeben ist, nicht kapitalistisch ausgewählt, teils nach Ähnlichkeit, teils nach vermutetem Gefallen, sondern künstlerisch, nach Widerspruch, nach Konzentration und Perspektivwechseln. Während die Algorithmen der sozialen Medien versuchen, den User möglichst lange auf der eigenen Seite zu halten, wegführen von der eigenen Entscheidung, führen diese Installationen den Blick auf das, was da ist außerhalb ihres Mediums.

Nächstes Jahr wird das Radio 100 Jahre alt, übernächstes das Hörspiel. Diese beiden Jubiläen will das Hörspielfestival in den nächsten Jahren begehen. Wie vor hundert Jahren sind auch diese Jahre Zeiten, in denen sich viel neu sammelt, neu sortiert, aufbricht.

Mit dem Hinein- und Hinausgehen in Töne und Orte ist dieses Festival ein Ort, um Fragen immer wieder neu zu stellen. Wie sich das Hörspiel immer wieder neu erfindet.

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