nd-aktuell.de / 09.10.2022 / Wissen / Seite 1

Lego-Baukasten für Chemiker

Erfinder der »Click-Chemie« bekommen Preis für effektives Syntheseprinzip

Steffen Schmidt

Man liest zuweilen, Wissenschaftler hätten nur in ihren ersten Berufsjahrzehnten wirklich bahnbrechende Ideen und würden diese im Verlauf ihrer Karriere nur noch ausarbeiten. Der US-Chemiker K. Barry Sharpless beweist – zumindest für die Chemie – das Gegenteil. 1999, zwei Jahre bevor er zusammen mit William S. Knowles und Ryoji Noyori für die Entwicklung spezieller Katalyseverfahren für spiegelsymmetrische Moleküle den Nobelpreis bekam, stellte der damals 58-Jährige die nächste grundlegende Idee auf einem Kongress vor: die von ihm so genannte Click-Chemie.

2001 publizierte er mit Kollegen das Konzept in der deutschen Fachzeitschrift »Angewandte Chemie«. Zeitgleich und unabhängig von Sharpless veröffentlichten die Dänen Morten Meldal und Christian W. Tornøe ein ähnliches Konzept, aus einfachen Bausteinen mit Kupferkatalysatoren gezielt komplexere Moleküle in hoher Ausbeute zu synthetisieren. Wurden Sharpless und Meldal dem Nobelkomitee zufolge dafür ausgezeichnet, dass sie die Grundlagen für die sogenannte Click-Chemie gelegt haben, bekommt die einzige Frau unter den diesjährigen naturwissenschaftlichen Nobelpreisträgern den Preis dafür, dass sie die Click-Chemie in eine neue Dimension gebracht und sie für die Kartierung von Zellen nutzbar gemacht hat. Carolyn Bertozzi von der US-Universität Stanford suchte nach einer Möglichkeit, Moleküle in lebenden Zellen zu markieren, und fand eine Click-Reaktion, die ohne das zellgiftige Kupfer auskommt. Mit ihren sogenannten biorthogonalen Markierungen konnte sie beispielsweise die Bindung von bestimmten Kohlehydraten, sogenannten Glykanen, an Eiweißmoleküle untersuchen.

Bei der Entwicklung neuer Arzneimittel stehen oft komplizierte Biomoleküle Pate. Doch die sind mit Mitteln der Synthesechemie nur schwer herzustellen. Mehrstufige Reaktionen mit unerwünschten Nebenprodukten sind nicht selten. Sharpless suchte deshalb ein Baukastensystem aus einfacheren organischen Bausteinen, die sich zuverlässig und mit hoher Ausbeute verbinden. Ähnlich wie Lego-Steine, die sich fest und passgenau zu komplexen Objekten wie Spielzeughäusern, Auto- oder Raumschiff-Modellen verbinden lassen.

2002 stellten Meldal von der Universität Kopenhagen und Sharpless unabhängig voneinander die wohl berühmteste Click-Reaktion vor, die sogenannte Kupfer-katalysierte Azid-Alkin-Cycloaddition. Die Reaktion ist in der Forschung wie auch in der Industrie sehr beliebt. Sharpless ist überzeugt, dass die so entstehenden Moleküle auch dann häufig ihre Funktion erfüllen würden, wenn sie nicht exakt so aufgebaut sind wie in der Natur.

Inzwischen kommt die Click-Chemie unter anderem bei der Entwicklung von Arzneimitteln, bei der Kartierung der DNA und bei der Herstellung von Materialien zum Einsatz, heißt es in der Begründung des Nobelkomitees. Zudem sei mithilfe bioorthogonaler Reaktionen die Zielgenauigkeit von Krebsmedikamenten verbessert worden.

Bertozzi stammt aus einer Wissenschaftler-Familie: Ihr Vater war Nuklearphysiker am Massachusetts Institute of Technology (MIT), ihre Mutter arbeitete ebenfalls dort. Auch die vier Schwestern ihres Vaters waren Forscherinnen. Bertozzi studierte in Harvard Chemie. »Ich wollte eigentlich Biologie wählen, aber als ich meinen ersten Chemiekurs hatte, dachte ich, dass Moleküle wie Menschen sind«, sagte Bertozzi in einem Interview. »Sie sind lustig.« Bertozzi engagiert sich als Aktivistin für Menschen, die lesbisch, schwul, bisexuell oder Transgender sind.

Sharpless, der am Scripps Research Institute in La Jolla in Kalifornien forscht, wollte als Kind Kapitän eines Fischerbootes werden wie sein Onkel, entschied sich dann aber doch für ein Chemiestudium. Er gilt als bescheiden, unkonventionell und exzentrisch. Meldal hingegen wird von Kollegen eher als zurückhaltend beschrieben.