Weder sozial noch revolutionär

Für das 49-Euro-Ticket ernten Bund und Länder nicht nur Lob

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 5 Min.
Mirow, Mecklenburg
Mirow, Mecklenburg

49-Euro-Ticket, Gas- und Strompreisbremse, ein Härtefallfonds, mehr Finanzhilfen für die Kommunen bei der Unterbringung Geflüchteter und einiges mehr: Kurz vor seinem Abflug nach Peking konnte Kanzler Olaf Scholz noch einmal liefern. Die Entlastungen kämen angesichts der hohen Energiepreise mit dem notwendigen Tempo, sagte der SPD-Politiker am Mittwochabend nach dem Bund-Länder-Treffen, auf dem seine Ampel-Koalition sich mit den Ministerpräsident*innen auf diverse Entlastungsmaßnahmen in der Energiepreiskrise geeinigt hat. Jedoch gibt es für die Beschlüsse nicht nur Lob.

Kritik etwa an der Gas- und Strompreisbremse gibt es nicht nur aus den Reihen der Union. „Die Gaspreisbremse droht zu spät zu kommen. Bis in die Mittelschicht gehen die Menschen auf dem Zahnfleisch und stehen nach zweieinhalb Jahren Dauerkrise mit leeren Taschen da», erklärte etwa der wirtschaftspolitische Sprecher der Linken im Bundestag, Christian Leye. Es sei absehbar, dass die Zeit zwischen Dezemberabschlag und Einsetzen der Gaspreisbremse für viele zu einer existenziellen Herausforderung werden könnte.

Bund und Länder einigten sich darauf, dass die Gaspreisbremse wie geplant erst ab 1. März kommen soll. Eine rückwirkende Einführung zum 1. Februar wird dabei lediglich „angestrebt», wie die Teilnehmenden des Treffens in ihrem Beschluss festhielten. Damit sollen die Kosten für Erdgas für Verbraucher*innen für bis zu 80 Prozent des „historischen» Verbrauchs der Haushalte bei zwölf Cent und für Fernwärme bei 9,5 Cent pro Kilowattstunde gedeckelt werden. Die Strompreisbremse soll hingegen schon zum 1. Januar kommen. Dabei sollen die Kosten für private Verbraucher*innen sowie kleine und mittlere Unternehmen ebenfalls bis zu einem Anteil von 80 Prozent des Verbrauchs 40 Cent pro Kilowattstunde nicht überschreiten.

Auch für große Industriebetriebe soll ab Januar 2023 bis April 2024 der Preis für ein Gas-Grundkontingent von 70 Prozent des historischen Verbrauchs auf sieben Cent pro Kilowattstunde gedeckelt werden. Der Strompreis soll für 70 Prozent des Vorjahresverbrauchs auf maximal 13 Cent begrenzt werden. Allerdings gibt es dafür keine großen Vorbedingungen. Deshalb fordert die Initiative Finanzwende ein Dividenden-Ausschüttungsverbot für Unternehmen, die die Hilfen in Anspruch nehmen. „Staatshilfen sind dafür gedacht, Unternehmen durch die Krise zu bringen und Arbeitsplätze zu sichern. Ohne ausreichende Konditionen werden aber Milliarden von unseren Steuergeldern wirkungslos verheizt», erklärte Konrad Duffy von Finanzwende.

Scharfe Kritik gab es insbesondere an den Beschlüssen des Treffens zur Nachfolgeregelung für das beliebte 9-Euro-Ticket. So verwies Linksfraktionschef Dietmar Bartsch darauf, dass sich viele einkommensschwache Menschen das 49-Euro-Ticket, das nun „Deutschlandticket» heißen soll, nicht leisten werden können. Auch Christoph Bautz von dem Kampagnennetzwerk Campact beklagte den hohen Preis für die Monatskarte, die bundesweit im Nahverkehr nutzbar sein soll. Zumindest für Menschen mit geringem Einkommen brauche es ein 29-Euro-Ticket: „Nur so profitieren auch diejenigen davon, bei denen in Zeiten der Energiepreiskrise der Schuh am meisten drückt.»

Derweil plädierte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow angesichts der beschlossenen Maßnahmen für mehr Gelassenheit. »Raus aus dem Schock, den wir hatten, und weg von der Hysterie« müsse man kommen, sagte er nach dem Treffen im Kanzleramt. In den kommenden Wochen müsse hart gearbeitet werden. Die Politik müsse den Menschen „Mutsignale» geben. »Das bedeutet für mich Mutwinter statt Wutwinter«, sagte der Linke-Politiker. Er kündigte an, für sein Bundesland zumindest für jüngere Menschen ein günstigeres Ticket bereitstellen zu wollen: »Meine Idee ist ein 29-Euro-Ticket bis zum 29. Lebensjahr oder ein 28-Euro-Ticket bis zum 28. Lebensjahr.«

Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und der ökologische Verkehrsclub VCD kritisierten insbesondere die mangelnde finanzielle Ausstattung der Verkehrsunternehmen. „Die Lage in den ÖPNV-Unternehmen hat sich bundesweit in den letzten Monaten verschärft«, konstatierte die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Christine Behle. »In allen Regionen gibt es Betriebe, die ihre Verkehre ausdünnen. Teils, weil die aktuellen Kostensteigerungen nicht mehr abgefangen werden können, teils, weil im Fahrdienst und in den Werkstätten das Personal fehlt.«

Die VCD-Bundesvorsitzende Kerstin Haarmann betonte, ein neues Ticketmodell allein reiche nicht, „um die Verkehrswende zu bewerkstelligen». In den Städten seien Busse und Bahnen oft überfüllt, auf dem Land führen sie viel zu selten. Manche Linien verkehrten derzeit eingeschränkt, weil es an Personal mangele oder die Energiekosten zu hoch seien. „Wenn wir diese Zustände überwinden wollen, brauchen wir eine Ausbau-Offensive», so Haarmann. Nach Angaben des VCD sind dafür zusätzliche 15 Milliarden Euro im Jahr nötig. Bund und Länder wollen den Verkehrsbetrieben ab 2023 lediglich 1,5 Milliarden Euro jährlich zum Verlustausgleich zur Verfügung stellen. 

Auch für Hartz-IV-Beziehende wird die Verkehrswende wohl ausbleiben. Denn in den Hartz-IV-Regelsätzen sind nur 30 Euro pro Monat für Mobilität vorgesehen. Davon sollen rechnerisch auch noch die Fahrradreparatur und andere Kosten gedeckt werden. Der „revolutionäre» soziale Ansatz des 9-Euro-Tickets, das vielen Menschen Mobilität und gesellschaftliche Teilhabe erst ermöglicht habe, falle mit der Nachfolgeregelung komplett weg, kritisiert deshalb der Vorsitzende der Linksfraktion im hessischen Landtag, Jan Schalauske. Von Armut Betroffene spielten in den Überlegungen der Regierenden offenbar kaum eine Rolle, dabei hätten sie die Entlastungen allein angesichts der gestiegenen Lebenshaltungskosten am nötigsten.

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