• Politik
  • Kinderhandel in Guatemala

»Kinder wurden quasi à la carte bestellt«

Marco Antonio Garavito über den Handel mit guatemaltekischen Kriegssprösslingen

  • Moritz Osswald
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Bürgerkrieg in Guatemala (19601996) massakrierte nicht nur die indigene Bevölkerung, sondern gab auch den Startschuss für ein Menschenhandel-Netzwerk, bei dem Kleinkinder an reiche westeuropäische Familien verkauft wurden. Welche psychologischen Probleme zeigen Betroffene, die Ihre Organisation Liga Guatemalteca de Higiene Mental begleitet?

Grundsätzlich gibt es zwei Syndrome: Verlassenwerden und Schuldgefühle. In den biologischen Familien herrschen Schuldgefühle vor. In der Gesellschaft wird als kulturelles Konzept vorgeschrieben, dass Eltern ihre Kinder zu schützen haben. In einer ländlichen Gegend konnten wir einen Fall dokumentieren: Inmitten einer Schießerei des Militärs in einer Dorfgemeinschaft flüchtete eine Familie und ließ ihr Kind zurück. Später sagten sie zu sich: Wären wir doch nur zurückgegangen, auch wenn sie uns getötet hätten. Sie nahmen an, dass sie schuld waren – nicht der Krieg, nicht das Militär, nein, sie selbst. Die Adoptierten leiden unter einem komplizierten Syndrom des Verlassenwerdens. Seit sie klein sind, fragen sie sich: Warum bin ich hier in Europa? Wollten mich meine Eltern nicht? Warum haben sie mich zurückgelassen? Dieses Gefühl des Verlassenwerdens manifestiert sich oft in Ängsten, Depressionen, sozialem Abkapseln sowie dem Konsum von Alkohol und anderen Drogen.

Interview

Marco Antonio Garavito ist Psychologe,
Ex-Guerillero und Chef der Liga Guatemalteca de Higiene Mental (Guatemaltekische Liga für mentale Gesundheit). Er sprach mit »nd« über pathologische Machteliten, die Verantwortung der westlichen Adoptivfamilien und die Bedeutsamkeit der psychologischen Begleitung für Betroffene.

Warum braucht es psychologische Begleitung für die Betroffenen? Können sie nicht einfach auf eigene Faust ihre Suche starten und ihre Eltern finden?

In Frankreich kannte ich einen adoptierten Jungen. Spanisch hatte er gelernt. Der Junge entschied sich dazu, die Suche nach seinen richtigen Eltern auf eigene Faust anzugehen. Er hatte eine Adresse aus Archivdokumenten seines Falles ausfindig gemacht. Er sagte zu sich selbst: Ich gehe dorthin. Er ging zu dem Haus und klopfte an die Tür. Eine Frau kam heraus und der Junge sagte: Ich bin dein Sohn, komme aus Frankreich und wurde adoptiert. Die Frau entgegnete: Ja, du bist mein Sohn – aber ich will dich nicht sehen. Und sie schloss die Tür. Dann bekam er eine heftige Depression – es kostete ihn sehr viel, da rauszukommen. Danach fanden wir heraus: Das Problem war, dass niemand sonst von der Existenz dieses Kindes wusste. Es war ein Geheimnis. Der adoptierte Sohn ist oft der Erstgeborene. Über dieses erstgeborene Kind erzählen die Mütter, die danach weitere Kinder bekommen, nichts. Es empfiehlt sich, einen Prozess zu gestalten, in welchem festgelegt wird, welche die beste Strategie ist. Eine Wiederbegegnung, die nicht ordentlich durchgeführt wird, sollte man besser sein lassen.

Während des Bürgerkriegs wurde ein kriminelles Netzwerk geschaffen, das unzählige Babys und Kleinkinder raubte und illegal zur Adoption freigab. Doch auch nach dem Ende des Krieges florierte der Menschenhandel weiter. Wie konnte das sein?

Weil das notarielle Prozedere das Ganze damals sehr einfach machte. Es war unglaublich leicht, in Guatemala ein Kind zu adoptieren. Guatemala war das Paradies für Adoptionen. Wir haben mit unserer Organisation viel dafür gekämpft, dass der Nationale Adoptionsrat (CNA) 2008 geschaffen wurde. Viele Anwälte sträubten sich damals dagegen, da es ihren kriminellen Geschäften einen Strich durch die Rechnung machte.

Dass vonseiten der Adoptiveltern niemand je kritisch nachfragte, scheint schwer zu glauben. In den 80ern und 90ern waren die Hotels der Hauptstadt voll von Paaren aus reichen weißen Nationen. Sie blieben zwei Wochen im Land und kehrten mit einem adoptierten Baby heim.

Eine der Eigenheiten unseres Volkes ist das Schweigen. Es wurde nicht darüber geredet. Auch für Menschen aus Kanada oder Europa war der Bürgerkrieg in Guatemala eine Sache, von der viele nichts wussten. Es gab keinen bewaffneten Konflikt in Lateinamerika, der so tragisch war, wie der unsere. Und dennoch ist es der am wenigsten bekannte. Was die Familien wussten, war, dass die Vorgehensweise in Guatemala schneller war als in jedem anderen Land.

Das ist doch der Punkt. Da hätten doch die Alarmglocken läuten sollen.

Da stimme ich zwar zu. Aber auch die Adoptivfamilien sind Opfer geworden. Ohne ihr Wissen unterstützten sie ein kriminelles Netzwerk von Menschenhändlern. Die erzählten ihnen eine andere Geschichte, gaben ihnen zu verstehen, sie würden etwas Gutes tun. Kindern ein besseres Leben ermöglichen. Wer es wusste und stark involviert war, waren die privaten Vermittlungsagenturen in Frankreich, Belgien, Kanada. Wie zum Beispiel die Organisation »Hacer Puente« (Brücken bauen) – die bis heute existiert. Es gab auch krassere Fälle. Beispielsweise den eines französischen Pärchens in einem Privatkrankenhaus hier in der Hauptstadt. Sie brachten dort Zwillinge aus der Region Chimaltenango hin. Der Arzt in diesem Krankenhaus war bekannt dafür, gefälschte Zertifikate auszustellen. Das Pärchen ging nach Frankreich zurück, und die guatemaltekischen Zwillinge waren plötzlich die biologischen Kinder des Paares. Der Arzt bescheinigte, bei der Geburt dabei gewesen zu sein.

So massiv war die Korruption damals.

Adoption ist – aus menschlicher Sicht – ein legitimes Vorgehen. Das Problem ist, dass damals das Prinzip der Adoption umgekehrt wurde: Bei Adoptionen sucht man normalerweise eine für das Kind geeignete Familie aus. In Guatemala war es andersherum. Man suchte für die Familie passende Kinder aus. Kinder wurden quasi à la carte bestellt.

Wie erreichen Menschen so ein Niveau an Unmenschlichkeit?

Die Macht in diesem Land ist sehr speziell. Sie ist pathologisch; das kann ich als Psychologe sagen. Dieselben inhumanen Strukturen, die bei den Adoptionen zum Vorschein kamen, sind jene, die dieses Land seit Jahrhunderten regieren. Es geht ums Geschäft – um jeden Preis. Vor den Adoptionen war es das Thema der Aneignung des Farmlands. Die guatemaltekische Elite ist einzigartig in ganz Lateinamerika. Es wird uns sehr viel kosten, sie von der Macht wegzuzerren – und ich glaube, ich werde das nicht mehr miterleben.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -