Postwachstums-Konferenz: Das solare Zeitalter ist die Vision

Kongress im EU-Parlament sucht Wege jenseits des Wachstums

  • Marion Bergermann, Brüssel
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Brüsseler Konferenz »Beyond Growth« kam rechtzeitig: Am 3. Juni ist der Globale Tag des Postwachstums.
Die Brüsseler Konferenz »Beyond Growth« kam rechtzeitig: Am 3. Juni ist der Globale Tag des Postwachstums.

Die Erde wird verheizt und die Menschen werden ausgebeutet, wenn Wirtschaftswachstum in Europa weiterhin als so wichtig angesehen wird. Welche Wege es stattdessen für eine menschenfreundlichere Zukunft geben könnte, diskutierten von Montag bis Mittwoch tausende Teilnehmer*innen bei der Konferenz »Beyond Growth« (»Über das Wachstum hinaus«) im EU-Parlament in Brüssel.

Die Grundidee der Konferenz: Wirtschaftswachstum muss hinterfragt werden, weil es auf Kosten der Natur und der Menschen geht. Und den Erfolg von Ländern sollte man nicht nur mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) messen. Kapitalismuskritik also, eingebettet in demokratische Prozesse.

Viele junge Menschen, bunt gekleidet und wenige in Jackett oder Bluse, wie es sonst der unausgesprochene Dresscode im EU-Parlament ist, waren dafür am Montag zur Eröffnung gekommen. Diese war prominent besetzt mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) und EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola als Rednerinnen. 

Angesichts wirtschaftlicher Einbrüche durch die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg scheint sich auch die EU damit zu beschäftigen, was zu tun ist, wenn dauerhaftes Wirtschaftswachstum außer Reichweite gerät. Im voll besetzten Plenarsaal plädierte von der Leyen für grünes Wachstum, also umweltfreundlicheres Wirtschaftswachstum, mit dem von ihrer Kommission entworfenen Green Deal. Mit diesem Klimaschutzplan setzt die EU unter anderem auf Investitionen in Solarkraft und Wasserstoffproduktion. »Ein auf fossile Brennstoffe gestütztes Wachstumsmodell ist einfach überholt«, sagte von der Leyen und erntete Applaus. Begeistert zitierten Konferenzteilnehmer*innen den Satz im Online-Dienst Twitter – als ob die Kommissionschefin Wachstum allgemein für überflüssig erklärt hätte. Dabei warb sie für ihren Green Deal. Dessen »Kompass« sei die soziale Marktwirtschaft, sagte sie vor den Wachstumskritiker*innen. »Wir wissen, dass die Zukunft unserer Kinder nicht nur von BIP-Indikatoren abhängt, sondern auch von den Grundlagen der Welt, die wir für sie aufbauen.«

Kurz nachdem von der Leyen gesprochen hatte, stellte ihre Brüsseler Behörde ihre Frühjahrsprognose für das Wachstum der EU und der einzelnen 27 Mitgliedstaaten vor – basierend auf dem BIP. Für dieses Jahr sagte die Europäische Kommission ein Wachstum von einem Prozent für die EU-Wirtschaft voraus. Für kommendes Jahr prognostizierte die Kommission für die EU ein Wachstum von 1,7 Prozent.

Weniger explizit und weniger wachstumskritisch blieb EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, die wie von der Leyen dem konservativen europäischen Parteizusammenschluss EVP angehört. Schulden müssten zurückgezahlt werden, und das gehe nur, »wenn wir fähig sind, unsere Wirtschaften nachhaltig wachsen zu lassen«, sagte sie.

Während die beiden EU-Spitzen sich für grünes Wachstum aussprachen, diskutierten die Konferenzteilnehmer*innen in den darauffolgenden Panels und Runden breiter, ob man für mehr Wohlergehen für die Menschen vom Wirtschaftswachstum ganz abrücken sollte, wie man Wachstum messen kann, wenn nicht mit dem BIP, ob grünes Wachstum in Ordnung ist, wenn auch an bessere Arbeitsbedingungen und weniger Ausbeutung in Drittländern gedacht wird. Die Politökonomin und Professorin Maja Göpel stellte die grundlegende Frage: »Warum assoziieren wir Wachstum mit etwas Gutem?«

Wie Wachstum anders gedacht und gemessen werden kann, beschäftigt seit Jahrzehnten eine ganze Reihe von Ökonom*innen, andere Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen. Angesichts der Klimakrise und Neoliberalisierung befanden mehrere Teilnehmer*innen in ihren Vorträgen, es sei drängender als je zuvor, dass das Wirtschaften auf Kosten der Natur und der Menschen nicht immer weitergehen könne. 

Dass es inzwischen mehr als ein Nischenthema ist, anders über Wachstum zu denken, zeigte neben den Eröffnungsreden der EU-Spitzen auch die Organisation der Konferenz. Fünf Fraktionen, von Linken über Grüne bis zur konservativen EVP, veranstalteten das Event in Zusammenarbeit mit Dutzenden Organisationen. Mehr als 2500 Menschen hatten sich nach Angaben der Veranstalter*innen für die persönliche Teilnahme angemeldet und weitere 5000 für die Teilnahme per Online-Übertragung. 

Für viele Anwesende bedeutete die Suche nach neuen Wegen für weniger Ausbeutung und bessere Lebensbedingungen auch, Demokratien zu stärken. Die Nachhaltigkeitsexpertin Sandrine Dixson-Declève warnte vor sozialen Spannungen, die durch den Fokus auf wirtschaftliche Interessen zunähmen. »Wir können starke Demokratien haben oder wir können unsere gefährliche Besessenheit auf Wachstum fortsetzen«, betonte sie. »Aber wir können nicht beides haben.« Ähnlich äußerte sich der Linke-Europaabgeordnete Helmut Scholz, der die Konferenz mitorganisiert hatte. »Der Wahn vom grenzenlosen Wachstum zerstört unseren Planeten und sprengt unsere Gesellschaften«, schrieb Scholz auf Twitter.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -