In Deutschland schwindet das Vertrauen in die Demokratie. Eine Studie in diesem Sommer zeigte, dass nur jeder Zweite Vertrauen in das derzeitige System hat. Fachleute diskutieren darüber, was schief gelaufen ist.
Ich habe eine Theorie: Vor zwei Jahren stimmte eine große Mehrheit der Berliner*innen für die Enteignung großer Wohnungskonzerne[1]. 59,1 Prozent sprachen sich für die Vergesellschaftung gigantischer Immobilienunternehmen wie Deutsche Wohnen und Vonovia[2] aus. Doch die Regierungen Berlins - die jeweils weit weniger Stimmen als der Volksentscheid erhalten hatten - haben alles getan, um die Entscheidung des Volkes zu sabotieren. Sowohl Franziska Giffey von der SPD als auch Kai Wegener von der CDU sind grundsätzlich gegen die Enteignung und haben sich eine Verzögerungstaktik nach der anderen einfallen lassen.
Fühlt sich das wie eine Demokratie an? Oder wie eine drittklassige Autokratie, in der Abstimmungen nur respektiert werden, wenn die Machthaber*innen zustimmen?
Jetzt sind überall in der Stadt wieder gelbe und lila Plakate aufgetaucht. Am zweiten Jahrestag des Volksentscheids, am 26. September, hat die Kampagne »Deutsche Wohnen & Co enteignen« (DWE) angekündigt, ein zweites Volksbegehren zu starten.[3] Wir werden erneut 20.000 und dann 170.000 Unterschriften sammeln müssen. (Es hat Spaß gemacht!) Beim letzten Mal haben wir über einen Vorschlag abgestimmt, dass die Regierung ein Gesetz zur Enteignung formuliert. Jetzt wird die Kampagne selbst ein solches Gesetz verfassen. Alles muss man selbst machen!
Lesen Sie auch: Yannik Böckenförde, Sprecher von Deutsche Wohnen und Co. enteignen, erklärt, warum die Initiative einen neuen Volksentscheid will[4].
Warum haben sie nicht gleich ein eigenes Gesetz geschrieben? Weil vor ein paar Jahren noch niemand wusste, wie eine Enteignung nach Artikel 15 des Grundgesetzes aussehen würde. Jetzt haben sich Jurist*innen und Aktivist*innen mit dem Problem befasst, und DWE sammelt 100.000 Euro, um eine Anwaltskanzlei mit der Ausarbeitung des Textes zu beauftragen.
Die Regierung unter Kai Wegner[5] arbeitet nach eigenen Angaben an einem Enteignungsrahmengesetz, das den Rahmen für ein künftiges Enteignungsgesetz vorgeben soll – das Verfassungsgericht könnte dann prüfen, ob dieses Gesetz Bestand hat. Das offensichtliche Problem ist, wie ein Rechtsexperte gegenüber »nd« erklärte[6], dass ein solches Gesetz eigentlich nichts bewirken würde. Solange das Eigentum einer Immobiliengesellschaft nicht in öffentliches Eigentum überführt wird, ist niemand klageberechtigt. Wie eine deutsche Redewendung sagt: »Kein Kläger, kein Richter.«
Dies ist nur ein weiterer zynischer Schritt gegen die Demokratie. Wir haben bereits die Farce von Giffeys »Expertenkommission« erlebt, die ein Jahr brauchte, um zu berichten, dass Artikel 15 des deutschen Grundgesetzes es tatsächlich erlaubt, Eigentum »in öffentliches Eigentum zu überführen[7]«, wenn es »dem Wohl der Allgemeinheit dient.[8]« Das hätte ich auch mit einer kurzen Google Suche sagen können. In Berlin werden ständig Gebäude enteignet – aber bisher nur, um die von CDU und SPD so geliebten Autobahnen zu bauen. Warum sollte eine Enteignung undenkbar sein, um die Mieten zu senken?
Vor mehr als zwei Jahren schrieb ich über ein seit langem leerstehendes Gebäude[9] in meinem Viertel, das endlich renoviert werden sollte. Das Projekt wird von Henning Conle kontrolliert, einem Milliardärserben, der seine Gewinne aus der Immobilienspekulation nutzt, um massive illegale Spenden an die AfD zu leisten. Die Bauarbeiten sind noch nicht abgeschlossen, aber die ersten Mieter*innen sind bereits eingezogen. Ich wohne seit einem Jahrzehnt in diesem Block, und meine Miete beträgt etwa 8,50 Euro pro Quadratmeter. Diese neuen Wohnungen kosten fast 22 Euro – eine Steigerung um das Zweieinhalbfache in zehn Jahren.
Kein Wunder, dass die Menschen offen für radikale Lösungen sind. Der Berliner Wohnungsmarkt wird von den Vampir-Tintenfischen der Finanzspekulant*innen und nicht wenigen echten Gangstern kontrolliert. Schauen Sie sich nur an, wie die Eigentümer der Habersaathstraße 40-48[10] gewalttätige Schläger anheuerten, um die Wohnungen von Mietern zu verwüsten[11], die sie raus haben wollten – trotz eines Gerichtsbeschlusses.
Eine Enteignung wäre ein Schritt in Richtung echter Demokratie – die überwiegende Mehrheit der Berliner*innen sind Mieter*innen und wir würden ein Stück Kontrolle über unseren Wohnraum gewinnen. Letztlich werden Unterschriften aber nicht ausreichen. Wir werden Besetzungen von leeren Wohnungen und Mietstreiks brauchen, um das Kräfteverhältnis zu verändern. Direkte Aktionen sind das, wonach Demokratie aussieht. Es ist an der Zeit, mit DWE und ihrer englischsprachigen Gruppe Right to the City[12] aktiv zu werden.