nd-aktuell.de / 09.10.2023 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 1

Wirtschaftsnobelpreis 2023 an Claudia Goldin

Die US-Ökonomin forscht zu den Ursachen der Geschlechterkluft

Kurt Stenger

Die Geschlechterkluft auf dem Arbeitsmarkt ist heute ein bekanntes Phänomen. Während weltweit rund 50 Prozent der Frauen im erwerbsfähigen Alter einer bezahlten formellen Beschäftigung nachgehen, sind es 80 Prozent der Männer. Und wo Frauen arbeiten, verdienen sie im Schnitt 13 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen in vergleichbaren Tätigkeiten. Für die klassische Wirtschaftswissenschaft war dies indes lange ein unbekanntes Terrain – bis Claudia Goldin kam: Die Professorin an der Universität Harvard erforschte, wie sich die Geschlechterkluft in den vergangenen 200 Jahren in den USA verändert hat, und zeigte dabei die erklärenden Muster dahinter auf. In diesem Jahr erhält die 77-Jährige den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, weil »sie die wichtigsten Ursachen für die geschlechtsspezifischen Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt aufgedeckt hat«, wie die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften am Montag mitteilte.

Lesen Sie auch: Kurt Stenger über den diesjährigen Wirtschaftsnobelpreis[1].

Goldins Ansatz ist historisch. Dabei musste sie erst Hindernisse überwinden, denn es lagen kaum geeignete Daten vor. Sie durchforstete Archive und erhob eigene Daten, um aufzuzeigen, wie und warum sich Geschlechterunterschiede in Bezahlung und Beschäftigungsraten über die Zeit verändert haben. Dabei wurde deutlich, dass die Kluft in den USA nicht etwa linear kleiner wurde, sondern es zunächst eine U-Kurve gab: Die Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen ging mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft im frühen 19. Jahrhundert zurück, stieg dann aber mit dem Wachstum des Dienstleistungssektors im frühen 20. Jahrhundert an. Neben dem wirtschaftlichen Strukturwandel beeinflussten auch soziale Normen in Bezug auf die Verantwortung der Frauen für Haus und Familie diese Entwicklung, der Anstieg des Bildungsniveaus und der Zugang zur Antibabypille, der neue Möglichkeiten der Familien- und Karriereplanung schuf und die Kluft bei der Erwerbstätigkeit sprunghaft verkleinerte. Goldin konnte ferner zeigen, dass der größte Teil des Verdienstunterschieds heute zwischen Frauen und Männern im gleichen Beruf mit der Geburt des ersten Kindes entsteht.

Als wichtigstes Werk der gebürtigen New Yorkerin gilt »Understanding the Gender Gap: An Economic History of American Women« von 1990. Auf ihrem Gebiet gilt Goldin als Pionierin. Für die Wirtschaftswissenschaften ist sie von Bedeutung, da sie Ungleichheit genauso thematisiert wie die Bedeutung gesellschaftlicher und familiärer Strukturen. So gehen ihr zufolge die Unterschiede in den wirtschaftlichen Ergebnissen oft darauf zurück, dass Frauen mehr Arbeit im Haushalt leisten. Daraus schlussfolgert Goldin: »Wir werden niemals die Gleichstellung der Geschlechter erreichen, solange wir nicht auch die Gleichstellung der Paare erreichen.«

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176868.claudia-goldin-ein-doppelt-wichtiger-wirtschaftsnobelpreis.html