Christoph Augenstein hat viereinhalb Jahre als Produktions- und Betriebsdirektor beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB)[1] gearbeitet, bis er im Februar fristlos entlassen wurde. Am 1. September lief sein befristeter Vertrag aus – und nun will er sieben Jahre bis zur Rente monatlich 8900 Euro Ruhegeld haben. So ist es bei seinem Dienstbeginn vereinbart worden für den Fall, dass der Vertrag nicht verlängert wird. Doch der RBB sieht nicht ein, dass er das bezahlen soll.
So trifft man sich am Mittwoch vor dem Arbeitsgericht Berlin – nicht zum ersten und sicher auch nicht zum letzten Mal. Nach etwa anderthalb Stunden Verhandlung ziehen sich Berufsrichter Arne Boyer und seine zwei Laienkollegen zur Beratung zurück. Das Urteil will Boyer erst am 11. Dezember verkünden. Ihm ist klar, dass die Sache damit nicht erledigt sein wird und sich Augenstein und der RBB vermutlich eine Instanz höher am Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wiederbegegnen werden. »Wahrscheinlich 99,9 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland wechseln in ein befristetes Arbeitsverhältnis, weil sie eine Chance sehen – ohne Übergangsgeld, um sich abzusichern«, sagt Rechtsanwalt Carl-Christian von Morgen, der den RBB vertritt. Eine Regelung wie die für Augenstein habe er vorher noch nie gesehen. Sittenwidrig und damit nichtig ist sie seiner Einschätzung nach.
Das wiederum ist für Richter Boyer Neuland. »Über Sittenwidrigkeit sprechen wir eigentlich im Sub-sub-sub-Bereich und nicht an der Spitze der Gesellschaft«, sagt er. Soll heißen: Wenn Beschäftigte sittenwidrig schlecht bezahlt werden und nicht über die Maßen. Augensteins Anwältin Kerstin Reiserer versucht, ihren Mandanten als eine Art Sozialfall zu verkaufen: Seit 1995 sei er beim Westdeutschen Rundfunk (WDR) gewesen und dort 2013 zum Leiter der Hauptabteilung Produktion und Sendung befördert worden. Wenn er diese Funktion irgendwann hätte abgeben müssen, wäre er anderweitig weiterbeschäftigt worden und hätte weniger Geld, aber trotzdem noch 10 033 Euro brutto erhalten.
Der RBB habe Augenstein abgeworben. Weil er drei Kinder hatte, von denen zwei studierten und eins noch zur Schule ging, und die Frau fast nichts verdiente, habe sich Augenstein absichern müssen, als er von Köln nach Berlin wechselte. Doch für die 10 033 Euro hätte Augenstein beim WDR arbeiten müssen, vom RBB wolle er 8900 Euro fürs Nichtstun, erinnert die Gegenseite. Anwältin Reiserer erwidert: Augenstein würde ja arbeiten. »Der Kläger steht zur Verfügung.« Doch der RBB wolle ihn nicht mehr.
Begründet wird die Kündigung mit zwei Dienstreisen zu Beerdigungen. Dass die erste wirklich genehmigt war, wird bestritten. Die zweite Fahrt zur Beisetzung des bekannten Journalisten Fritz Pleitgen, der im September 2022 starb, war auf jeden Fall bewilligt. Nur hätte Augenstein da nicht einen Tag länger bleiben und damit das Spesenkonto zusätzlich belasten sollen, findet der RBB. Viel entscheidender: Der Betriebsdirektor soll durch sein Schweigen bewirkt haben, dass der RBB-Verwaltungsrat nicht gleich erfuhr, dass die kalkulierten Kosten für das Bauprojekt Digitales Medienhaus von 125 Millionen Euro auf 188 Millionen gestiegen waren.
Richter Boyer deutet schon an, dass sich Augenstein auf rund 450 000 Euro Schadenersatz für entgangene Nebentätigkeiten, die er vom RBB begehrt, nicht viel Hoffnung machen darf. Auch 25 000 Euro Schmerzensgeld wegen Rufschädigung, die er von Interimsintendantin Katrin Vernau[2] persönlich haben will, werde er wohl nicht bekommen. Doch der größte Batzen, das Ruhegeld, sei zwar zweifellos sehr hoch, allerdings vielleicht nicht sittenwidrig[3].