Tropfende Zeit kann wie tropfendes Blut sein. Stunden, Stunden, Stunden. Mit der quälenden wie faszinierenden Länge seiner Inszenierungen wurde Frank Castorf im Kosmos Volksbühne legendär: ein schwer mutiger Schwermütiger der angehaltenen Uhren. Jahrelang. Von Hebbel bis Dostojewski, von Celine bis Malaparte. Das Ensemble wie ein quicklebendiger Pflock Fleisch im Fluss der Gewalten und Gequältheiten zwischen »verkommenen Ufern« (Heiner Müller). Hendrik Arnst immer mittendrin.
Er war eine der »poetischen Kampfmaschinen« Castorfs[1]: ein Meister der schäbigen Präsenz, der prunkenden Grobheit, der umfetteten Weichseele. Fest oder flatternd im qualligen Leib. Mit Vorliebe eine bedächtige, dann wieder übernervöse, stolpernde, stierende, dämmernde, irrglotzende, zitternde, schwitzende, übernächtigte, morgengrauenhafte Gestalt. Er schlug seine Figuren gern ans Kreuz einer stupiden Gespensterlichkeit. Zuckmayer, Döblin, Bulgakow: eine Schildkröte im Militärmantel, ein Gauner-Klumpen in Berlin-Gossen, ein Fettpfannen-Freak in Moskaus Imbiss-Untergrund.
Arnst, 1950 in Weimar geboren, studierte Schauspiel in Berlin, war einer von Castorfs Jüngern in Anklam, die DDR-Provinz als Prärie-Route 66, seit 1994 am Rosa-Luxemburg-Platz. Er spielte sich lustvoll Blei in den Kopf seiner »Mittelgrund- und Hintergrundrollen« (Castorf). In den uferlosen Kolportagen aus Theoriefetzen, Glaubensbeschwörungen, hilflosen Lebensbefragungen in totaler Leere und Menschenunverträglichkeit war er das Kutanen- und Kittel- und Sackleinen-Gegenstück zu den High Heels der Volksbühnen-Ästhetik. Im berühmten »Pension Schöller«-Coup warf er als Kellner bühnenquer Heringe an die Wand, als wolle er Dart-Weltmeister werden. Wenn er bei Dostojewski das Wort »Kakerlak« aussprach, war urplötzlich das uralte Russland[2] auferstanden, im Kellerloch.
Hendrik Arnst offenbarte das schöne Leben: wie aus einem Schauspieler ein Barde wird. Gossiger, kumpliger Gaukler für ein Theater, das Fragen nach Moral und Ethik in heisere, wodkagetränkte Hysterie hinaufschraubte, in jene Castorf-Welt, die ethischen Werten nur noch ein einziges Asyl gestattet: die bibbernde, blödelnde, die gottlos zotige Posse. Des Schauspielers lungernde, lauernde, lethargische Strahlkraft kam aus dem Dunstlicht irgendwelcher Seitenstraßen. Er hatte mitunter jenes Wirre, Irre im Blick, das drohend anzeigt, wie Verletzung und Missachtung in aggressive Kraft umschlagen. Wenn er lachte, lachte ein verlarvter Dämon, und im Kokon des tiefsten Ernstes steckte immer auch eine dicke, tranige Comic-Figur. Nun ist Hendrik Arnst am 2. Januar im Alter von 73 Jahren gestorben.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1179061.volksbuehne-hendrik-arnst-castorfs-barde.html